Die Frau-eine Parabel

Die Frau-eine Parabel

von NUH HA MIM KELLER

Eines Nachmittags ging ein Mann über den Marktplatz. Gerade als der Muezzin mit dem Gebetsruf anfing, fiel sein Blick auf den Rücken einer Frau. Sie war seltsamerweise anziehend, obwohl in widerliches Schwarz gekleidet, einen Schleier über Kopf und Gesicht, und dreht sich jetzt zu ihm um, als ob sie sich seines lange verweilenden Blickes irgendwie bewußt wäre, und nickte ihm leicht, aber bedeutungsvoll zu, ehe sie um die Ecke in die Gasse der Seidenverkäufer einbog. Wie vom Blitz getroffen, war der Mann sofort angezogen, sein Herz ein Gefangener jenes Blickes, für immer. Vergeblich kämpfte er mit seinem Herzen und lieferte ihm einen vernünftigen Grund nach dem anderen, um seinen Weg zu gehen - war es nicht Zeit zum Gebet? - aber er war fertig: er konnte nichts machen, außer zu folgen.

Er eilte ihr nach, bog in den Seidenmarkt ein, atmete vor Anstrengung, um die Frau einzuholen, die ihn unerwarteterweise hinter sich gelassen hatte und gerade jetzt für einen Augenblick am weit entfernten Ende des Marktes, viele Läden voraus, verweilte. Sie wandte sich ihm zu, und er dachte, unter dem dem schwarzen Musselin ihres Schleiers hevor das Aufleuchten eines schadenfrohen Lächelns zu sehen, als sie - war es Einbildung? - ihm abermals zunickte.

Der arme Mann war außer sich. Wer war sie? Die Tochter einer wohlhabenden Familie? Was wollte sie? Er beschleunigte seine Schritte und bog in die Gasse ein, wo sie verschwunden war. Und so führte sie ihn, stets außer Reichweite, immer verlockend, voran, jetzt durch den Waffenmarkt, jetzt durch den Markt der Ölhändler, jetzt durch denjenigen der Lederverkäufer, immer weiter weg von der Stelle, wo sie angefangen hatten. Das Gefühl in seinem Inneren wuchs mehr, als daß es abnahm. War sie verrückt? Sie führte immer weiter, bis ganz zum Stadtrand.

Die Sonne neigte sich und ging unter, und da war sie, vor ihm wie immer. Jetzt waren sie, nach allen Plätzen, zur Stadt der Gräber gekommen. Wäre er bei Sinnen gewesen, so hätte er sich gefürchtet, aber tatsächlich, überlegte er sich jetzt, hatten merkwürdigere Orte als dieser das Stelldichein von Liebenden gesehen.

Es waren kaum zwanzig Ellen zwischen ihnen, als er sie zurückblicken sah, und, sich einen kleinen Stoß gebend, hüpfte sie die Stufen hinunter und durch die große Bronzetür von etwas, was eine sehr alte Grabstätte zu sein schien. Ein nüchtererner Augenblick hätte den Mann haltmachen sehen können, aber in seinem gegenwärtigen Zustand, gab es keine Umkehr, und er ging die Stufen hinunter und glitt hinter ihr hinein.

Im Inneren gab es, wie seine Augen nach einem Augenblick sahen, zwei Treppen, die zu einer zweiten Tür hinunterführten, von woher ein Licht schien, und die er ebenso durchschritt. Er fand sich in einem großen, von der Außenwelt irgendwie unvermuteten Raum, von Kerzen an seinen Wänden erhellt. Dort saß die Frau, gegenüber der Tür, auf einem Lager von reichem Stoff, in ihrer ganzen schwarzen Kleidung, noch verschleiert, und lehnte sich auf ein Kissen gegen die entfernte Wand. Rechts von dem Lager bemerkte der Mann eine Brunnenöffnung im Boden.

"Verschließe die Tür hinter dir," sagte sie mit leiser, rauher Stimme, die beinahe ein Flüstern war, "und bring den Schlüssel her."

Er tat, wie ihm geheißen war.

Sie wies mit einer Geste nachlässig zu dem Brunnen. "Wirf ihn hinein."

Ein Strahl von Vernunft schien für einen Augenblick die Wolken über seinem Verstand zu durchdringen, und ein Zuschauer, wäre einer dabei gewesen, hätte das geringste Innehalten wahrnehmen können.

"Mach schon," sagte sie lachend, "du hast nicht gezögert, das Gebet zu versäumen, als du mir hierher folgtest, nicht wahr?"

Er sagte nichts.

"Die Zeit für das Abendgebet ist auch beinahe schon zu Ende," sagte sie leicht höhnisch. "Warum bist du besorgt? Mach schon, wirf ihn hinein. Du willst mir zu Gefallen sein, nicht wahr?"

Er streckte seine Hand über die Brunnenöffnung aus und beobachtete, wie er den Schlüssel fallen ließ. Ein unheimliches Gefühl stieg ihm aus der Magengrube empor, als Augenblicke vorübergingen, aber kein Geräusch zu hören war. Er empfand Verwunderung, dann Grauen, dann Einsicht.

"Es ist Zeit, mich zu sehen," sagte sie und hob ihren Schleier, um nicht das Gesicht eines unverbrauchten jungen Mädchens aufzudecken, sondern dasjenige eines abscheulichen alten Weibes, ganz Finsternis und Laster, nicht ein Partikel von Licht irgendwo in seinen ältlichen Zügen.

"Sieh mich gut an," sagte sie. "Mein Name ist Dunya, diese Welt. Ich bin deine Geliebte. Du hast deine Zeit damit zugebracht, mir nachzurennen, und jetzt hast du mich eingeholt. In deinem Grab. Willkommen, willkommen."

Dabei lachte sie und lachte, bis sie sich zu einem kleinen Haufen feinen Staubs zerschüttelte, dessen unbeständige Schatten in die Finsternis zurückkehrten, als die Kerzen, eine nach der anderen, erloschen.

______________________________________________________
Aus dem Englischen übertragen von: Abdullah Frank Bubenheim

 

© Die Wahrheit im Herzen

Drucken E-Mail