Themabewertung:
  • 0 Bewertung(en) - 0 im Durchschnitt
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
Ein recht gutes Leben. Geschichten aus dem Sudan
#2
Ein recht gutes Leben. Geschichten aus dem Sudan (Teil 2)

Vorhaltungen und Beschimpfungen
(Dienstag)
Eine Mischung aus Panik und Wut stiegen in mir auf, und ich begann, mit meinen Kindern herumzuschreien. Einen knallharten Steinhagel von Vorhaltungen und Beschimpfungen ließ ich auf sie niederprasseln. Irgendwie mußte das doch hier alles zum Funktionieren kommen, oder? Irgendwie? In mir sagte etwas: Aber so nicht.
Es war der erste Schultag. Alle waren ganz aus dem Häuschen, schon zu nachtschlafenden Zeiten mit dem Morgengebet aufgewacht, sogar die Kleinen. Bei allen war da wohl eine Mischung aus Aufregung und Ängsten gewesen. Auch bei mir, bloß, man unterdrückt das, will es gar nicht hochkommen lassen. Bis es sich dann als Steinhagel seinen Weg sucht...
(Mittwoch)
Da stand nun auf meinem Papier, was am Vortag war: „...begann, mit meinen Kindern herumzuschreien. Einen knallharten Steinhagel von Vorhaltungen und Beschimpfungen ließ ich auf sie niederprasseln...“ Gut so - da konnte ich es nicht so leicht vergessen. Bei Allah stand es ja auf jeden Fall aufgeschrieben.

Es war höchste Zeit, etwas nachzudenken. Es genügte nicht, daß es mir leid tat, daß ich so gemein gewesen war. Auch nicht, Allah zu bitten, es mir zu verzeihen. Wir alle gehören doch Ihm, meine Kinder sind mir anvertraut von Ihm. Vielmehr sollte es ja auch nicht wieder vorkommen. Und ich müßte eigentlich wiedergutmachen, was ich da angerichtet hatte. Kinder sind so weich und zart. Was sie erleben, prägt sich ein, prägt sie. Doch, Nachdenken war angesagt, dringend.
„Jeder von euch ist ein Hirte, und jeder von euch wird einst nach dem gefragt werden, was er zu hüten hatte...“, hat der Prophet gesagt.
Wie ging der Prophet mit Kindern um? Seinen Sohn Ibrahim, der dann noch im Säuglingsalter sterben sollte, pflegte er in die Arme zu nehmen, an sich zu drücken und zu küssen. Sein Enkeltöchterchen Amama durfte auf seinen Schultern reiten, während er im Gebet stand. Um sich zu beugen und niederzuwerfen, setzte er sie sanft ab. Er besuchte seine Tochter Fatima, um nach seinem Enkelsohn zu fragen. Wenn der ihm dann entgegenlief, nahm er ihn in die Arme, drückte ihn an sich und sagte: „Bei Allah, ich liebe ihn und alle, die ihn lieben.“ Er spielte mit seiner kleinen Stieftochter Seinab, wobei er sie mit einem Kosenamen rief.

Als sein Stiefsohn Omar seine Hand in der Schüssel wandern ließ, aus der gemeinsam gegessen wurde, erklärte er ihm, wie er sich beim Essen benehmen sollte: „Mein Junge, sag `bismillah`, iß mit der Rechten und iß, was vor dir ist.“ Seinen kleinen Kousin Abdullah ließ er mitaufsitzen, als er auf seinem Reittier ritt, und lehrte ihn bei dieser Gelegenheit: „Mein Junge, ich bringe dir einige Worte bei: Achte auf Allah, dann achtet Er auf dich. ... Wenn du bittest, dann bitte Allah, wenn du um Hilfe bittest, dann bitte Allah um Hilfe. Und du mußt wissen: Wenn sich die ganze Menschheit zusammentut, um dir zu nutzen, so werden sie dir nichts nutzen, außer was Allah dir bereits bestimmt hat. Und wenn sich die ganze Menschheit zusammentut, um dir zu schaden, so werden sie dir keinen Schaden zufügen, außer was Allah dir bereits bestimmt hat...“

(Donnerstag)
Und mein Papier lag immer noch auf dem Schreibtisch.
„...begann, mit meinen Kindern herumzuschreien. Einen knallharten Steinhagel von Vorhaltungen und Beschimpfungen ließ ich auf sie niederprasseln...“
Der Prophet hat davor gewarnt, die eigenen Sünden zu leicht zu nehmen, denn dann sammeln sie sich an, bis sie einen Menschen zugrunderichten. Er hat auch gesagt: „Handle nicht in Wut, dann erlangst du das Paradies.“
Die Schreckensvision von mißratenen Kindern, sich für seine Kinder schämen zu müssen, von ihnen enttäuscht zu werden...

Ich wußte eigentlich, daß es nicht in meiner Hand lag, was aus meinen Kindern einmal würde. Das Meine beizutragen war, was anstand. „Und der Sieg kommt allein von Allah.“, steht im Koran. Sieg steht auch für Erfolg. In Demut dankbar sein für wohlgeratene, vorzeigbare Kinder, die für die Umwelt eine Bereicherung sind, nicht eine Last... in Demut dankbar, nicht stolz... „Nichts wird uns treffen als das, was Allah für uns bestimmt hat...“ Kein Platz für Panik also. Das Meine beitragen... „Jeder von euch ist ein Hirte, und jeder von euch wird einst nach dem gefragt werden, was er zu hüten hatte...“ Kinder brauchen Festigkeit und Barmherzigkeit, eine Mutter, die sie liebevoll und bestimmt leitet, anleitet, die Ruhe behält und den Überblick.
(Freitag)

Wiedergutmachungsversuche. Mir endlich mal Zeit genommen nachzusehen, was mit der Nähmaschine los war. Die Mädchen wollten schon lange nähen. Zwar konnte ich die Maschine dann nicht zum Laufen bringen, aber auch die Absicht plus Bemühung zählen bei Allah. Fatima ein Stück von meinem Schokoladerriegel abgegeben (Es hätte größer sein dürfen.). Endlich wieder mit Chadidscha Französisch gelernt, sie wartete schon seit Tagen drauf.

Mit Abudi einen Nachmittag lang Nußhörnchen gebacken. Es ergab sich so, er fragte, ob er mir helfen dürfe. Und dann genoß er es, mich mal für sich zu haben. Gott sei´s gedankt. Die Jüngeren waren alle im hinteren Hof beschäftigt, buddelten im Sand und spielten mit Katzen und Ziegen, Chadidscha und Fatima waren in ihrem Zimmer verschwunden. Wirklich, dankeschön, lieber Gott, daß das so ein schöner Nachmittag wurde, kaum zu glauben.

Nachdenken über Abdullah... Es war so schwierig mit ihm. Vielleicht, weil er der älteste Sohn war? Mir gegenüber brachte er eigentlich immer nur seine Unzufriedenheit zum Ausdruck. Wenn ich´s mir recht überlegte, beruhte das wohl auf Gegenseitigkeit – kaum kriegte ich ihn zu fassen, fing ich an: „Hast du schon...? Abdullah, dein Schlafanzug liegt noch...“ usw. Seine Hitzköpfigkeit, Wildheit, laute Stimme machten mir zu schaffen. Wenn er doch ein bißchen vernünftiger wäre. Oft dachte er sich den allerschlimmsten Blödsinn aus. Dann hielt ich ihm vor, daß er als der älteste Junge doch eigentlich ein Vorbild für die Jüngeren sein müßte. Außerdem fühlte er sich immer benachteiligt und ungerecht behandelt. Die großen Mädchen tricksten ihn aus, ärgerten ihn, bis er vor Wut jedes Maß verlor und dann er es war, der Schimpfe und Strafe bekam.

Eine Zeitlang hatte ich das nicht durchschaut, obwohl ich doch selbst mal die ältere Schwester eines jüngeren Bruders war... Und seine jüngeren Geschwister waren eine Plage, nahmen ihm seine Mutter weg, kriegten die Zärtlichkeit, die er gern für sich allein gehabt hätte...
Weiter Wiedergutmachungsversuche. Ich erzählte Ibrahim, wie mich als kleines Mädchen bei den Ferien auf dem Bauernhof die Ziege in den Finger gebissen hatte und ich dann ganz empört war, hatte ich ihr doch etwas zu Fressen gebracht! Da wollte er gleich noch mehr haben, eine Geschichte vom Bär und vom Hasen – die hatte ich ihm mal vor langer Zeit erzählt, daß er sich da noch erinnerte! Als ich dafür dann aber keine Zeit mehr hatte, stimmte er sein schrilles Protestgeschrei an. Gott sei´s gedankt, daß wir nicht in Deutschland in einer Mietskaserne lebten... Er bekam diesmal keinen Klaps dafür, der sowieso nichts genützt hätte, sondern ich ließ ihn einfach schreien.

Erstaunlich bald war er dann von alleine still. Etwas später kam er an und meinte, ob ein Stier wohl Eier lege? Nein? Gut, dann sei er halt ein Huhn, ob er mein Huhn sein dürfe? Okay, meinte ich großzügig. Die Plastikbausteine waren die Eier. Zweierlei Eier würde er legen. (Es gab zweierlei Bausteine.) Da könne ich ja dann für alle Karamelpudding draus kochen. Okay. Die Idee mit dem Stier gefiel ihm aber doch zu gut. Ob der Stier Fleisch frißt. Nein, Ibrahim, der Stier ist zwar ganz gefährlich, weil er jemanden mit seinen Hörnern schlimm verletzen kann. Aber er frißt nur Gras.... Frißt er nicht mal Insekten? Nein.. Also, ich bin halt ein Stier, der Eier legt... liebevoll blickte er auf die Plastikbausteine... geht das? Also gut.
(Samstag)
Gott sei Dank. Mein knapp siebenjähriger Sohn Hamudi hatte so etwas wie eine Sprachbehinderung. Manchmal konnte er einfach nicht aufnehmen, was er gesagt bekam. Und manchmal konnte er einfach nicht artikulieren, dann kam nur Matsch aus seinem Mund raus. Noch in Deutschland hatten wir sein Gehör gründlich untersuchen lassen und dachten deshalb, daran läge es nicht. Zwar hatte die sehr junge Ärztin etwas unsicher gewirkt, aber die technische Ausstattung in einer renommierten Kinderklinik in München war zu beieindruckend gewesen, als daß wir auf die Idee gekommen wären, daß die Diagnose ganz einfach falsch war und der Junge eben doch ein Hörgerät gebraucht hätte. Das sollte sich dann leider erst viele Jahre später herausstellen, als in seiner sprachlichen, schulischen und sozialen Entwicklung natürlich viel verpaßt war.

Doch das wußte ich noch nicht. Ich trug es mit Fassung, daß es im Sudan natürlich keine logopädische Behandlung gab, wie ich sie mir für meinen Sohn gewünscht hätte. In den Ferien, das hieß, in den vergangenen vier Monaten, denn aufgrund des Klimas dauern die Schulferien im Sudan so lange, hatte ich mit ihm gründlich Koran geübt. Ich war tief im Herzen überzeugt, daß das die beste Therapie war. Buchstaben um Buchstaben hatte er sich erkämpft. Es war sehr erstaunlich: Wenn er einmal begriffen hatte, wie ein Wort ausgesprochen wurde, vergaß er es nicht mehr. Er machte gewaltige Fortschritte. Auch sein Sprechen im Alltag war klar und viel besser geworden. Aber mit der Aufregung um den Schulanfang hatte er plötzlich einen schlimmen Rückfall. Da kam wieder dieses gequälte „Häh?“, wenn er einfach nicht aufnehmen konnte, was er gesagt bekam. Und diese Hilflosigkeit, wenn er dastand, etwas sagen wollte und es einfach nicht ging. Es tat weh, das ansehen zu müssen. Das war auch einer der Auslöser des Steinhagels gewesen. So schnell hatte ich das nicht durchschaut. – Elhamdulillah, Gott sei Dank. Inzwischen war dieser Rückfall vorbei.

Ich war immer noch am Nachdenken und Bereuen. In diesem Schuljahr sollte alles besser werden. Ich wollte die Kinder besser bei den Hausaufgaben betreuen, sorgsamer auf ordentliche Schultaschen und –kleidung achten, genau hinhören bei allem, was sie zu erzählen hatten.
Mir war bewußt geworden, daß ich auf Safia aufpassen mußte. Sie war ruhig, forderte mich wenig, lief halt so mit. Das mochte zum einen ihr Charakter sein. Ich dachte mir aber, es lag auch daran, daß sie ein Mädchen war, das einen älteren Bruder, einen Zwillingsbruder und noch zwei jüngere Brüder hatte.
Kurz bevor ich Muslim wurde, hatte ich eine interessante Studie über Gesprächsverhalten gelesen. Das Gesprächsverhalten von Männern und Frauen unterscheidet sich sehr. Und es konnte auch nachgewiesen werden, daß in einer gemischten Klasse Jungen etwa zwei Drittel der Aufmerksamkeit der Lehrkraft bekommen, Mädchen das restliche Drittel. Jungen sind einfach fordernder. Mädchen geben sich leichter zufrieden und lassen sich leichter dahin kriegen, wo man sie haben will. Das war damals noch eine kräftige Erschütterung meines Glaubens daran, daß Männer und Frauen gleich seien. Und vor diesem Hintergrund leuchtete mir auch völlig ein, was der Prophet gesagt hat: „Gebt all euren Kindern gleich viel. Solltet ihr aber jemanden von ihnen vorziehen, dann die Mädchen.“

So bekam Safia nun fast meinen ganzen Nachmittag. Ich setzte mich neben sie und ließ sie die Rechenaufgaben nochmal machen, die im Heft quer über die Seite purzelten und stolperten, abgesehen davon, daß sie zum Teil falsch gelöst waren. Um den Platz für jede einzelne Ziffer kämpften wir gemeinsam, daß auch jede in ihr richtiges Kästchen kam. Sie war eifrig dabei, hatte mehr Geduld als ich. Nebenbei mußte ich ankämpfen gegen Ibrahims Eifersucht, und Musa, der gestillt werden wollte, vielleicht auch aus Eifersucht. Ibrahim zerrupfte aus Wut darüber, daß es ihm nicht gelang, meine Aufmerksamkeit von Safia auf sich abzulenken, sein neues Malheft. Als das und anderes Theater nichts halfen, begann er schließlich schön artig, Alifs auf ein Blatt des zerrupften Malheftes zu schreiben und war dann auch ganz zufrieden mit sich und mit meinem knapp gehaltenen Lob. Elhamdulillah. Ich hielt durch, bis Safias Rechenheftseite fertig war und wir den Gebetsruf zum Abendgebet hörten. Als ich die Hände hob und mit „Allahu akbar – Gott ist größer!“ mein Gebet begann, fühlte ich, wie anstrengend es für mich gewesen war. Ich hoffte, Allah nahm es von mir an.

Also nehmt ihn euch zum Feind

Ich merkte nichts. Das war schlecht.
Die Haushaltshilfe – sie hieß Fatima wie meine zweite Tochter, das sorgte für Verwirrung – saß auf dem niedrigen Hocker, auf dem sudanesische Frauen den größten Teil ihrer Hausarbeit verrichten, und wusch von Hand die Schulkleider der Kinder heraus. „Prima“, dachte ich. Ich hätte lieber „Gott sei Dank“ denken sollen, vielleicht hätte ich dann etwas gemerkt.

Sie hatte die Waschmaschine mit Wasser gefüllt, obwohl seit dem frühen Morgen kein Strom da war und sie bestimmt nicht mehr waschen würde, weil ihre Arbeitszeit fast zu Ende war. Sie erklärte mir, daß inzwischen Wasser aus der Leitung käme, wenn auch schwach. Sie lasse es aus dem Schlauch in den Eimer neben ihr laufen. Wenn der Eimer voll sei, kippe sie ihn in die Wassertonne, um sie so allmählich zu füllen. Wenn man den Schlauch direkt zur Tonne lege, liefe kein Wasser, da die Tonne zu hoch war und der Wasserdruck zu schwach. „Aha“, sagte ich. Das war neu, sie machte das zum ersten Mal so. Ich sagte nicht: „Möge Allah es dir vergelten.“

Ein bißchen was merkte ich doch. Als ich sie etwas später immer noch beim Wäschewaschen und Wassersammeln sitzen sah, meinte ich, das sei doch nicht nötig, daß sie das Wasser so mühsam sammelte. Daß die Wassertonnen oben auf dem Dach noch mindestens teilweise voll waren, sagte ich nicht, aber sie wußte es natürlich, und ich wußte, daß sie es wußte. Ich sagte, ich hätte doch nur etwas über den hohen Wasserverbrauch am Morgen gesagt, weil ich Angst gehabt hätte, das Wasser würde dann nicht mehr ausreichen, um die Schulkleider zu waschen (was dann bedeutet hätte, daß ich sie hätte abends waschen müssen, wenn es wieder Wasser geben würde, worauf ich natürlich überhaupt keine Lust hatte.) Fatima ließ sich nicht beirren, wusch und sammelte Wasser.

Als sie dann in der Küche stand – es war spät geworden – und die letzten Teller spülte, sagte sie, sie käme am nächsten Tag nicht, und dann erst wieder am Samstag. Dann sagte sie irgendetwas Halbverständliches, das auch gar nicht ganz verstanden sein wollte, von wegen ihrer Mutter, sie hinbringen für die Operation. „Ach?!“ Nun war ich aber überrascht.

Seit Fatima anfing, bei mir zu arbeiten, sprach sie von der Augenoperation für ihre Mutter. Sie und ihre Mutter waren dazu aus der weitentfernten kleinen Provinzstadt Nuhud nach Khartum gekommen, lebten hier bei Fatimas Bruder, und Fatima arbeitete, um das für die Operation erforderliche Geld zu verdienen.
Eigentlich war die Operation auf den Vortag, den Montag, angesetzt gewesen. Deshalb war Fatima am Vortag nicht gekommen, und ich hatte sie an diesem Tag gar nicht erwartet. Als sie dann mit der üblichen, aber verständlichen Verspätung relativ früh um dreiviertel neun plötzlich doch dastand, war die Küche schon halb sauber gewesen. Die Operation sei auf Donnerstag verschoben worden, am Vortag hätte sie die Mutter nur anmelden und die Gebühr bezahlen können. Deshalb sei sie nun extra recht früh gekommen.

Gut, die zweite Hälfte des Geschirrspülens war noch zu erledigen, und auch sonst gab es genug Arbeit: Drei Innenhöfe wollten gefegt, die Pflanzen gegossen, das Wasser in den Vogelkäfigen gewechselt und drei große Dielen gefegt und gewischt werden. Nicht zu vergessen die zwei Badezimmer. Eigentlich wäre an diesem Tag auch Waschtag gewesen, doch da der Strom fehlte, schob ich das auf. Leichten Herzens, dachte ich doch, sie würde am nächsten Tag, dem Mittwoch, kommen..

Ich hatte das Wasser abgedreht, das von den Tonnen auf dem Dach in die Leitungen des Hauses lief. So würde ich trotz des Stromausfalls auf jeden Fall noch eine Wasserreserve haben. Fatima konnte für ihre Arbeit Wasser aus der Wassertonne, die unten stand, schöpfen. Das war doch kein Problem für sie, lebte sie ja in einem Vorort, in dem es gar kein fließendes Wasser gab.

Musa war sehr unglücklich, seit die Kinder wieder in die Schule gingen. Er schlief, und nachdem ich noch schnell mit Chadidscha ein Frühstück für meinen Mann und seinen Gast gerichtet und auch selbst noch gefrühstückt hatte, beschloß ich, mich einfach auch hinzulegen, obwohl es noch recht früh am Vormittag war. Seit Tagen hatte ich Übermüdung angesammelt, außerdem war das Klima in diesen Tagen sehr anstrengend, sehr heiß und etwas schwül. Tatsächlich schlief ich, bis mich Chadidscha weckte, weil die Kinder gekommen waren.

Die Dielen waren gewischt, die Innenhöfe gefegt, sicher hatte Fatima auch die Pflanzen zuverlässig gegossen und die Wasserschalen der Vögel geputzt und neu gefüllt. Ich nahm das selbstverständlich und kümmerte mich erstmal um die Kinder. Da ich volle zwei Stunden geschlafen hatte, hatte ich natürlich kein Mittagessen für die Kinder bereit. Ich hätte das geplante Gericht auch gar nicht zubereiten können, weil der Strom immer noch nicht wieder da war, und also der Backofen nicht benutzbar war. Schnell ein paar Rühreier für die Kinder. Sie waren nicht mehr so aufgeregt wie die Tage zuvor. Allmählich schienen sie sich dran gewöhnt zu haben, daß wieder Schule war.

Im Vorbeigehen hatte ich gesehen , daß die Wassertonne unten fast leer war. Das war aber erstaunlich. Wo war das ganze Wasser geblieben? Drei Dielen wischen braucht drei Eimer Wasser, einen Teil der Pflanzen hatten wir zum Teil noch mit dem Schlauch gießen können, bevor der Strom weg war und Fatima kam. Kaum Geschirr... Also, ich konnte mir das nicht erklären und fragte Fatima, wo denn das ganze Wasser geblieben sei. Chadidscha meinte schnell, sie hätte mindestens drei Eimer ins Klo gekippt... Ja, aber trotzdem...

Dann nahmen mich die Kinder wieder in Beschlag. Später wisperte ein Teufel: „Vielleicht hat sie ja absichtlich viel Wasser verbraucht, damit am Schluß keines mehr da ist und sie die Schulkleider nicht zu waschen braucht!“ Ich war nicht auf der Hut und merkte nichts. „Wahrlich, der Teufel ist euch ein Feind, also nehmt ihn euch zum Feind...“, warnt uns Allah ...

Ich aber merkte nichts, genoß, daß ich so herrlich ausgeschlafen war, die Kinder friedlicher und weniger aufgedreht waren als die Tage zuvor und ich ihre Energie ohne Schwierigkeiten in vernünftige Bahnen lenken konnte. Ich fragte Fatima gleich nochmal, wo denn bloß das ganze Wasser geblieben sei. Das war nicht schön, das hätte ich nicht tun sollen.

Es wird berichtet, daß der Prophet seinen Diener, der ihm jahrelang diente, kein einziges Mal gefragt hat: „Warum hast du das gemacht?“ oder „Warum hast du das nicht gemacht?“ Nun... das war der Prophet... wir sollen ihn uns zum Vorbild nehmen...

Mein Mann kam relativ früh nach hause. O Gott! Ich hatte kein Mittagessen für ihn. Er hatte schon zum Frühstück Rühreier gegessen. Ob er vielleicht erst mal ein bißchen Käse essen könne, fragte ich vorsichtig. Ma scha Allah, es war Allahs Wille. Obwohl wir in diesen Tagen nur so aneinander vorbeirasten – ich voll beschäftigt mit dem Schulanfang, bei ihm ging´s grad im Geschäft hoch her – hatten wir einen guten Draht zueinander. Er würde auf das Mittagessen warten, meinte er, redete ein bißchen mit den Kindern, betete sein Gebet und legte sich hin. Gott sei Dank. –

Fatima war mit ihrer Arbeit fertig. Als sich das Hoftor hinter ihr schloß und sie sich für eine große Tüte trockenen Brotes ganz gegen ihre Gewohnheit nicht überschwenglich bedankt hatte, ich dastand mit der unsinnigerweise wassergefüllten Waschmaschine und der auch schon wieder fast gefüllten Wassertonne, merkte ich endlich was.

„Ein angemessenes Wort und Nachsicht sind besser als ein Almosen, dem Verletzendes nachfolgt...“ Ein angemessenes Wort war wohl fällig, wenn sie am Samstag in scha Allah käme. Bis dahin konnte ich ja schon mal Gott für sie bitten – um Kinder, die sie sich sicher wünschte, darum, daß die Operation ihrer Mutter gutgehen würde...

Fatima kam am Samstag nicht, sondern am Sonntag. Als wir uns zur Begrüßung die Hand gaben, ließ sie die ihre in der meinen ruhen und zog sie nicht zurück. Da zog auch ich meine Hand nicht zurück und dachte an den Propheten, der seine Hand immer in der Hand des anderen ruhen ließ, bis der andere sie zurückzog. Ob Fatima das auch wußte, ob sie in diesem Moment auch daran dachte? Sie hob an sich dafür zu entschuldigen, daß sie am Vortag nicht gekommen war, aber das brauchte sie nicht. Die Operation ihrer Mutter war erfolgreich verlaufen, tatsächlich konnte die alte Frau wieder sehen, nachdem sie seit zwei Jahren blind gewesen war.

Szenen rund um den Computer

Ich traute meinem Laptop nicht mehr so ganz und hatte angefangen, alle Texte lieber gleich auszudrucken. Das Speichern auf Diskette funktionierte nicht mehr, und auch sonst zeigte der kleine Computer immer mehr Macken.
Als ich ihn das letzte Mal benutzt hatte, verlangte er, ich solle ihn ans Stromnetz anschließen, weil die Batterie schwach geworden sei. Dabei war er doch ans Stromnetz angeschlossen! Dann war er mir eingefroren. Nun wollte ich wissen, was Sache war, meinen Text ausdrucken und so in Sicherheit bringen. Ich drückte auf „On“ – nichts. Einfach gar nichts. La haula we la quwwata illa billah.

Keine Macht noch Kraft außer Allah. Oder anders ausgedrückt: Es geschieht nur ganz genau das, was Gott will und bestimmt hat. Und: Wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück. Durfte das wahr sein? Daß mein Schreiben wieder der Technik zum Opfer gefallen war wie schon alles, was ich in der Zeit des Krieges der USA gegen Afghanistan geschrieben hatte? Damals war mir durch eine Unregelmäßigkeit in der Stromversorgung ein Laptop durchgebrannt, das blödsinnigerweise, aber weil Allah es so bestimmt hatte, und Allah macht, was Er will, - eingesteckt gewesen war, ohne Transformator...

Ich hatte damals alle meine Texte nur im Gedächtnis des Computers gehabt, keine Diskette angelegt, nichts ausgedruckt... Also wieder... Mein schöner letzter Text! Es waren ja bloß zwei, drei Seiten, aber sie waren mir so wichtig...
Ich versuchte, technisch zu denken. Die Stromversorgung vom Netz her schien nicht mehr zu funktionieren. Deshalb wohl hatte er bei der letzten Benutzung um eine neue Batterie gebettelt. Eine neue Batterie mußte her, auf jeden Fall. Ich dachte daran, meinen Mann anzurufen. Zum einen einfach, um ihm erzählen zu können, was Schreckliches passiert war. Danach war es mir sehr zumute, ihm das zu erzählen. Und ob es ihm zum anderen nicht vielleicht möglich sein würde, auf dem Heimweg die erforderliche Batterie zu besorgen?

Ich dachte an meinen Mann. Er war zum Mittagessen ganz kurz dagewesen, dann gleich wieder gegangen. Er hatte ein neues Stellgelände angemietet und ließ eine Markise als Überdachung für die Autos anbringen. Das Klima war seit ein paar Tagen mörderisch – ich hatte ganz vergessen, daß es so schlimm sein konnte. Wenn der Strom weg war, Ventilatoren und Wasserkühler still standen, streckte ich, schweißgebadet, nur noch alle Viere von mir, was überhaupt nicht meine Art war. Das war zuhause. Mein Mann arbeitete unter freiem Himmel, unter der glühenden Sonne, und wie ich ihn kannte, legte er bestimmt selbst kräftig mit Hand an.

Mir fiel die Geschichte von Umm Suleim ein. Ihr Mann war nicht zuhause, als ihr kleiner Sohn Umeir starb. Sie wusch das tote Kind und hüllte es in ein weißes Tuch. Dann schärfte sie den übrigen Mitgliedern der Familie ein, ihrem Mann nichts zu sagen, bis sie ihm selbst vom Tod des Kindes erzählen würde. Als er nach hause kam, hatte sie sich hübsch zurechtgemacht und servierte ihm das Abendessen. Auf die Frage nach seinem Sohn, der wohl vorher schon krank gewesen war, antwortete sie ihrem Mann: „Er ist jetzt ruhiger als zuvor.“ Als dann ihr Mann nicht nur satt, sondern auch in anderer Hinsicht befriedigt war, sagte sie zu ihm: „Was meinst du, wenn jemand sich etwas ausgeliehen hat, muß er es dann nicht zurückgeben?“ Ihr Mann meinte: „Aber sicher.“ Nun erzählte sie ihm, daß sein Sohn gestorben war. Da wurde ihr Mann böse, stand auf, ging zum Propheten und erzählte ihm, wie sich seine Frau verhalten hatte. Der Prophet sagte daraufhin: „Allah hat eure gemeinsame Nacht gesegnet.“

Und Umm Suleim war schwanger geworden und gebar daraufhin ihren Sohn Abdullah. Der hatte dann seinerseits neun Söhne, die alle hochgebildet waren und den gesamten Koran auswendig lernten.
Ich beschloß, meinen Mann nicht anzurufen.

Als er nach hause kam, polterte er als erstes mal los. Er hatte das Hoftor offenstehend angetroffen, und es war bereits nacht. Er hatte Angst um uns. Ich hatte mich nicht hübsch zurechtgemacht , und mir tat der Rücken weh. Er sah mir auch gleich an, daß es mir nicht so toll ging. Ich merkte, daß er es merkte und gleich nur noch ein bißchen zu ende polterte.

„Hat alles keinen Wert, ich sag´s ihm lieber,“ dachte ich und erzählte vom Totalstreik des Computers. „Kann ja gar nicht sein,“ meinte er und setzte sich gleich in Richtung Büro in Bewegung. Er drückte auf die „on“-Taste – nichts. „Ich habe Kopfweh,“ sagte er. Drückte hier und da auf die Tastatur, überlegte. Ich meinte vorsichtig etwas von vielleicht einer neuen Batterie. Er meinte: „Du träumst wohl! Die gibt´s vielleicht in Amerika, hier gibt´s ja nicht mal Autoersatzteile!“ (Er handelte mit letzteren.) Dann dachte er noch mal scharf nach. Er drehte das Laptop um und holte die Batterie heraus. Ein Mordsding, so groß hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Dann versuchte er es nochmal, und – gelobt sei Allah! – es funktionierte! Ohne Batterie funktionierte alles ganz normal. Mein Text... Er spannte mich noch ein bißchen auf die Folter, räumte hier und da im Computer herum, bis er mir meinen Text ausdruckte. War ich aber froh. Gott sei Dank!
--
Ich wußte kaum, wie mir geschehen war. Mein Mann hatte mich sanft, aber bestimmt aus seinem Zimmer, dem „Büro“, herauskomplimentiert, mich von seinem Computer vertrieben, an dem ich geschrieben hatte, weil mein Laptop doch wieder streikte. Nicht nur das, sondern er hatte mir sogar auch, wenn auch aus Versehen, meinen halbfertigen Brief im Computer weggeschmissen. Ich konnte es kaum fassen. –

Es war nachts um halb zwölf. Ich war beleidigt. So eine Behandlung war ich nicht gewöhnt!
Groll stieg auf. Nie wieder würde ich seinen Computer benutzen, nie wieder würde ich mich in sein Zimmer setzen, würde ihn nur knapp und kurzangebunden nach seinen Wünschen fragen und ihm dann seinen Kaffee mit eisigem Gesicht servieren – oder, noch besser, einfach von den Mädchen bringen lassen... Natürlich würde ich dann nicht mehr schreiben können, war doch mein Laptop bis auf weiteres der erschöpften Batterie erlegen. Egal, da war er ja schuld..
Einige Tage zuvor hatte ich einen Traum gesehen, den ich als Warnung verstanden hatte, nicht nachtragend zu sein.

Eine meiner Lieblingsstellen im Koran lautete: „ ...und beeilt euch hin zu Verzeihung von eurem Herrn und einem Paradiesgarten, der so weit ist wie Himmel und Erde und bereitsteht für die Gottesfürchtigen – diejenigen, die in guten und in schlechten Zeiten etwas abgeben, ihren Zorn unterdrücken und nachsichtig gegen die Menschen sind. Allah liebt die, die gut handeln...“

Als ich sie mehr als zehn Jahre zuvor, damals in der Zeit mit den afghanischen Wasienmädchen, entdeckte, lernte ich sie auswendig in der Hoffnung, zu jenen zu gehören, die da beschrieben waren. Der Wunsch, zu ihnen zu gehören, wuchs, als im Unterricht einiger ägyptischer Schwestern von ihnen die Rede war. Ein Muslim, der sich so verhält, steht am Tag des Gerichtes wirklich gut da. Es wurde erklärt: Wenn dir jemand Unrecht tut, muß er dir am Tag des Gerichtes im Maße des Unrechtes, das er dir angetan hat, von seinen guten Taten abgeben, oder aber – hat er keine – dir entsprechend von deinen schlechten Taten abnehmen. Hast du ihm aber verziehen, passiert ihm nichts, während du zu jenen gehörst, die Verzeihung von ihrem Herrn erlangen und jenen Paradiesgarten, der so weit ist wie Himmel und Erde... Wenn der Tag des Gerichtes anbricht, wird gerufen: Wo sind die, die gegen ihre Mitmenschen nachsichtig waren? Und sie haben ein Recht auf das Paradies...

Ich schluckte meinen Groll herunter. Gut, ich würde brav schlafen gehen, eigentlich hatte mein Mann ja recht, wie so oft. Es war wirklich spät genug.
Ich wachte noch vor dem Morgengebet auf und war auch gleich richtig wach. Das war ein gutes Zeichen. Ich dachte zurück an jene Zeiten voll Licht und Klarheit, in denen ich jede Nacht schon zu dieser gesegneten Nachtzeit vor Beginn der Morgendämmerung aufgestanden war, zusätzliche freiwillige Gebete gebetet, für mich und alle Gläubigen um Vergebung gebeten hatte..

Sie lagen zurück, und ich sehnte mich danach, dieses Licht, diese Klarheit wieder zu erhalten...
Ich stand auf und betete. Leider vergaß ich, mir einen Tee zu machen, und beim Morgengebet kämpfte ich dann mit der Müdigkeit. So wurde das Gebet nicht so schön, obwohl ich zum ersten Mal aus der Sure Jusuf rezitierte, wie ich es mir schon am Vortag vorgenommen hatte.

Mein Mann hatte sich nach dem Morgengebet, das Pflicht ist, noch einmal hingelegt, während ich meinen Prinzipien treu und wach geblieben war. Das entsprach dem Vorbild des Propheten, aber Pflicht war es nicht. Als mein Mann dann wieder aufstand, hatte ich zwar inzwischen meinen Tee getrunken, aber ich spürte die Müdigkeit immer noch. Wohl hatte ich meine guten Vorsätze, doch ich war einfach zu müde, um den Kampf gegen den miesen, eifrig wispernden Scheitan zu gewinnen. Unglücklicherweise ließ mein Mann mich auch spüren, daß er wohl wußte, wie sehr er mich am vergangenen Abend geärgert hatte. Und daß es ihm gar nicht leid tat. Als er aus dem Haus ging, fragte, ob ich etwas brauche, rief ich aus der Küche: „Nein, vielen Dank. Ich brauche überhaupt nichts.“ Da war der Groll also doch noch.

Den ganzen Vormittag wisperte der Scheitan eifrig. Der Schleimkerl... Was dem alles einfiel... Nicht nur Vorwürfe gegen meinen Mann, nein, auch noch viel raffinierter: Er erinnerte mich an so manches, was ich selbst gesagt oder getan hatte. Zum Beispiel, als mein Mann versucht hatte, mir das Laptop wieder in Gang zu bekommen. Da hatte ich gesagt: „Ich will nur meinen Text ausgedruckt haben, sonst will ich von dem Laptop gar nichts mehr wissen.“ Das war gemein gewesen, hatte es meinen Mann doch über tausend Dollar gekostet. Und da wisperte es nun: „Vielleicht hat er sich ja über dieses oder jenes heimlich geärgert, es sich nicht merken lassen und es dir dann gestern heimgezahlt...“ Oh, Scheitan, dieser Mistkerl. Ich wehrte mich müde und kam kaum gegen ihn an, obwohl ich genau wußte, daß das alles Quatsch war.

Tatsache war, daß Sadek uns gerade in diesen Wochen ungeheuer verwöhnt, nicht nur die Kinder großzügigst für die Schule ausgestattet, sondern auch mir die Eßvorräte üppigst aufgefüllt hatte. Kistenweise hatte er uns süße, rosafarbene Grapefruits und duftende Mangos – die beste Sorte – mitgebracht...
Ja, aber vielleicht tut ihm das ja im Nachhinein leid, bereut er es, findet er, daß wir es gar nicht wert waren, flüsterte der Scheitan. „Jetzt reicht´s aber!“ O Allah, bitte, halt mir diesen Kerl vom Leibe. „Audhu billahi mina scheitani radschim“, sagte ich auf Arabisch. Die übersetzen das mit: „Ich suche Zuflucht bei Allah vor dem gesteinigten Teufel.“

Ich legte mich zu einem frühen Mittagsschläfchen hin nach dem Vorbild des Propheten. Jahrelang hatte ich darum gekämpft, bis es mir zu einer Selbstverständlichkeit geworden war. „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“, hatte mein Bruder bei einem seiner Besuche gemeint, angesichts all des Ungewohnten in unserer Lebensweise. Wenn da vielleicht etwas dran ist – ein Tier ist der Mensch zwar ganz bestimmt nicht, da mußte ich doch energisch widersprechen, und daran, daß er vom Affen abstammt, glaube ich auch nicht –, also wenn da vielleicht etwas dran ist, dann kommt es jedenfalls sehr darauf an, was für Gewohnheiten man hat. Und mit welcher Absicht man sich diese angewöhnt hat, aber das mit der Absicht ist nochmal ein anderes, großes Thema. –
Als ich aufwachte, waren meine ganze Haut und meine Kleider klatschnaß. Es war ungeheuer heiß, der Strom war weg, Kühler und Ventilatoren standen still. Seit einer Woche ging das nun schon so: Strom und Wasser waren knapp, das Klima anstrengend. Die Kinder kamen aus der Schule, einige legten sich erschöpft einfach hin, einige wollten essen.

Als mein Mann nach hause kam, war er nett und freundlich wie immer. Natürlich war auch er geschlaucht. Er hatte nichts mitgebracht. Als wir beim Mittagessen saßen, meinte er, er hätte nach Tomaten geschaut, aber sie seien so schlecht und überteuert gewesen, da hätte er es lieber sein lassen. „Ach, du hast dich an die Tomaten erinnert?“ rutschte es mir heraus. Die hatte ich schon am Donnerstag haben wollen, aber es war gerade nicht die richtige Jahreszeit für Tomaten im Sudan, und ich hatte mich eigentlich schon damit abgefunden, die Pizzaböden in der Tiefkühltruhe halt mit Soße aus Tomatenmark aus der Dose weiterzuverarbeiten.

Mein Groll war weggeschmolzen, alles war gut. Ich war mir wieder sicher, daß ich meinen Mann liebte. Wie sollte ich auch nicht, war er doch wirklich lieb zu mir. Also Friede, Freundschaft, Pfannekuchen. Einige Jahre Eheerfahrung bewahrten mich davor, mich in ein himmlisches Gefühl der Harmonie absinken zu lassen. Da war noch was zu besprechen.

Als sich beim Nachtisch alle auf die Melonen stürzten, meinte ich vorsichtig: „Sag mal, meinst du, daß die Batterie für meinen Computer sehr teuer ist?“ „Ich habe heute auch schon danach gefragt“, sagte er, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. (Hatte er doch von vorneherein ausgeschlossen, daß man sie im Sudan bekommen könnte!) „Ich hab´ jemanden gefragt, der sich wirklich auskennt. Also du, die Batterie ist hier unmöglich zu besorgen.“ Darauf hatte ich mich ja sowieso schon eingestellt. „Ich könnte meinen Bruder bitten, sie mir in Deutschland zu kaufen und zu schicken.“ , sagte ich. „Wir dürfen deinem Bruder nicht zur Last fallen“, sagte er.

Er wußte, wie ungern ich jemanden um einen Gefallen bat. Ich war aber entschlossen, diesmal das Meine beizutragen. „Ach, vielleicht ist das ja gar kein Problem für ihn. Womöglich kann man dieses Teil in Deutschland in jedem Computerladen an der Ecke einfach bestellen lassen. Das ist was ganz anderes als diese Autotelefonreparatur, um die wir ihn vor einem Jahr gebeten haben, das war einfach ein bißchen zu ausgefallen und kompliziert.“ Er ließ sich überzeugen, meinte, ich solle ein Fax für meinen Bruder schreiben und ihm unbedingt genau alles aufschreiben, was auf der Batterie draufstand. Okay.

Einige Tage später hatte ich das Fax noch nicht geschrieben. Schuld daran war eindeutig die Stromknappheit der letzten Tage. Da meinte mein Mann: „Eigentlich könnten wir dir mit der Batterie auch gleich ein Zusatzteil für deinen Computer kaufen, um ihn zu verstärken. Er ist schrecklich langsam.“ „Fein“, freute ich mich, und freute mich auch, weil ich vermutete, daß er gerade im Geschäft finanziell ganz gut dastand, wenn er auf so eine Idee kam. „Du mußt mir genau aufschreiben, wie das Teil heißt, dann schreibe ich es meinem Bruder mit in das Fax.“ „Ach, vielleicht lasse ich lieber Jusuf alles besorgen, der kriegt das in München viel leichter.“

Dann geschah nichts mehr. Weder schrieb ich das Fax an meinen Bruder, noch telefonierte mein Mann mit Jusuf. Ich fand aber heraus, wie mein Computer behandelt sein wollte, wenn er gerade wieder total streikte: Ich mußte ihn einfach kurz vom Netz trennen, dann, bismillah, wieder einstecken , und er funktionierte. Subhanallah!
--
Subhanallah - gepriesen sei Gott! Ich kruschtelte in meiner Schreibtischschublade, was selten vorkam, denn meistens stopfte ich einfach noch mehr in sie hinein. Und da entdeckte ich doch noch zwei Texte, die das Durchbrennen jenes Laptops überlebt hatten! Ich mußte sie wohl rechtzeitig ausgedruckt haben. Das war im Ramadan gewesen, und auf Afghanistan fielen die amerikanischen Bomben.


Ramadan

Natürlich sahen wir die Mondsichel nicht, die den Beginn des Mondmonats Ramadan bedeutet, obwohl wir alle im Hof standen und fleißig den Himmel absuchten. Sie steht für kurze Zeit direkt nach Sonnenuntergang ganz fein und fadendünn am Horizont und ist meistens nur von der Wüste aus oder in den Bergen wahrzunehmen.

In der Nacht erreichte uns die Nachricht, daß die Mondsichel in einem anderen Land gesichtet worden war. Jetzt war Ramadan da, die Scheitane waren eingesperrt, die Tore des Himmels geöffnet, die der Hölle geschlossen... Ein tiefer Atemzug, o Allah!

„Nehmt die Suhur- Mahlzeit zu euch, denn sie ist ein Segen“, hat Allahs Gesandter gesagt. Die Suhur-Mahlzeit ist ein spätnächtliches Frühstück, das mit dem Beginn der Morgendämmerung abgeschlossen sein muß.
Zu fünft saßen wir am Ende der Nächte in der Küche, nein, nicht verschlafen, eher vergnügt, meist unterhielten wir uns munter. Was mag man zu dieser Zeit schon essen? Jeder bildete seine Vorliebe heraus, in wenigen Tagen wurde das Herrichten der Mahlzeit zu einer Routine.

Die ersten Tage schienen dann so leer vor einem zu liegen... kein Frühstückrichten, kein Frühstück, kein Mittagessen kochen, kein Mittagessen, kein Kaffee für meinen Mann zwischendrin, meine nachmittägliche Henkeltasse Tee entfiel... Das Klima war wunderbar freundlich, nicht zu heiß, windig, die Tage waren nicht zu lang. Da der Monat Ramadan ein Mondmonat ist, verschiebt er sich im Laufe der Zeit von einer Jahreszeit in die andere. So und auch je nach geographischer Lage verändert sich die Länge der Zeit, von Beginn der Morgendämmerung bis Sonneruntergang, in der man sich des Essens und Trinkens enthält.

Nur einmal verschliefen wir. Da mußte dann jeder kurz schlucken... nichts mehr zu machen, das war der Gebetsruf zum Morgengebet, selbst ein Schluck Wasser war jetzt nicht mehr drin... und dann erleben, daß es trotzdem auch ging. Allahu akbar. Wie immer noch viel größer Gott doch ist.

„Die Augen sind größer als der Mund,“ pflegte mein Großvater zu sagen. Er war ein bescheidener Mann und führte ein genügsames Leben. – Eine Stunde vor dem Fastenbrechen Panik in der Küche: Ob das Essen auch ausreichen würde, ob auch alle damit zufrieden sein würden, vielleicht sollte ich noch schnell... Hinterher stand ich dann vor den Resten. Wenn man tagsüber gefastet hat, kann man gar nicht so viel essen. Aber wie unglaublich gut doch der erste Schluck Wasser schmeckte, ja, schmeckte! „Der Fastende kann sich zwei mal freuen.“ hat der Prophet gesagt. „Einmal, wenn er sein Fasten bricht, und dann, wenn er am Tag des Gerichtes für sein Fasten belohnt wird."

Kinder...

Der - soweit man das erkennen konnte – stattliche Mann über dem Schuttberg, der sein Gesicht mit beiden Händen bedeckt hielt, muß wohl der Vater der Kinder gewesen sein. Das Bild der Kinder selbst wirkte eigentlich fast friedlich, drei mit einer Decke zugedeckt, das vierte hatte nicht mehr hingepaßt, so hatten sie es vor den Köpfen seiner Geschwister quergelegt. Als schliefen sie noch, sie sahen gar nicht tot aus, waren ja weder verwundet noch blutverschmiert. Die Mutter sei ins Krankenhaus gebracht worden. Zuvor das Bild, wie sie die Kinder ausgebuddelt hatten, ein Mann benutzte eine schwere, grobe Schaufel, ein anderer grub mit bloßen Händen. Als man plötzlich die Beine eines der Kinder sah, die inmitten des Drecks zum Vorschein gekommen waren, schossen mir die Tränen in die Augen, ich bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen und biß mir fest auf die Lippen.

Der amerikanische Verteidigungsminister erklärte ganz einfach alles für Lüge. Al Dschasira, der Fernsehsender von Qatar, sei eine Propaganda-Station der Taliban. Wir sahen die Pressekonferenz in Al Dschasira spät nachts aufgrund der Zeitverschiebung. Dann wiederholte der Nachrichrichtensprecher sachlich und kurz die Nachrichten, die da dementiert worden waren, brachte nochmal im einzelnen, wo in diesen drei Wochen amerikanische Bomben wieviele Opfer unter der afghanischen Zivilbevölkerung gefordert hatten. Es wurden die Bomben auf die Vorratslager des Roten Kreuzes erwähnt, die Bombe auf einen mit Flüchtlingen beladenen Lastwagen – keiner hatte überlebt -, die Namen der verschiedenen Stadtteile und Dörfer, ich konnte sie mir nicht merken.

Seit vor drei Wochen die amerikanisch – britischen Luftangriffe auf Afghanistan begannen, im Namen der „Bekämpfung des Terrorismus“, war das Gesicht des amerikanischen Verteidigungsministers um einiges gelber und häßlicher geworden.

In der Nacht schlief ich ausgesprochen gut, schon die zweite Nacht. Mein Jüngster schlief fast zwei Stunden am Stück durch, dann hatte er eine volle Windel. Frisch gewickelt wollte er noch ein bißchen gestillt werden. Ich schlief mit ihm wieder ein bis pünktlich zum Morgengebet. Die Morgenroutine lief dann gut, bis auf ein paar Kleinigkeiten. Musa war mit einem Lächeln aufgewacht, wie auch schon am Vortag. Er brauchte wieder eine frische Windel – diesmal war es ein Kackerchen, ein großes! Später war er eine ganze Weile mit dem quietschenden Riegel des Hoftors beschäftigt, den er zwar bewegen, aber noch nicht aufmachen konnte. So konnte ich schnell die Wäsche von der Leine nehmen, sogar ins Haus bringen, während er noch im Hof war, ohne daß er zu jammern begann.
Das jüngste der vier afghanischen Kinder gestern, das, das sie an den Köpfen seiner Geschwister quergelegt hatten, mag etwa so alt gewesen sein wie er. Es hieß ja auch, unter den Opfern sei ein Kind gewesen, das noch gestillt wurde, und die afghanischen Frauen stillen ihre Kinder sicher auch sehr lang.

„Eib!“
Mein Mann stand hungrig in meiner Küche und fragte, ob ich wohl etwas für ihn zu essen hätte. Auf das, was ich ihm so vorschlug, hatte er offensichtlich keine rechte Lust. Er begann, mir von einem Reisgericht vorzuschwärmen, das die jungen Männer, die für ihn arbeiteten, Studenten aus Burkina Paso, kochten. Das sei ja so lecker.

In mir meldete sich Eifersucht, hatte ich doch wohl gespürt, daß es ihm bei mir in den vergangenen Tagen nicht besonders gut geschmeckt hatte. „Krieg´ halt raus, wie die das kochen!“, versuchte ich meine Gefühle hinter Sachlichkeit zu verbergen. „Ach,“ meinte er, „das ist eigentlich bloß Reis, ein paar Knochen mit bißchen Fleisch dran, Gewürz, rot ist der ganze Reis dann.“ Und fuhr fort: „Das ist deren Nationalgericht, sie haben es heute gekocht, weil sie Besuch bekommen haben.“ Sie hätten ihn eingeladen, mitzuessen. Da habe er aus Höflichkeit einige Löffel gegessen.

„Ja, aber wenn sie dich doch eingeladen haben...“, meinte ich und mußte blinzeln. Die zweite Hälfte des Satzes sprach ich nicht aus, mein Mann verstand es auch so: Warum stand er dann jetzt hungrig in meiner Küche?
„Eib!“ meinte er ganz entschieden, das seien doch arme Leute, und sie hätten eigentlich für ihren Besuch gekocht. „Eib!“ ist das arabische Universalwort für alles, was man einfach nicht tut. Es zieht eine klare Grenze da, wo das gute Benimm aufhört.

Afrikanischer Sommer
Und wir sind um einen afrikanischen Sommer älter.
Ein schöner Satz. Wenn er doch nur schon wahr wäre, dachte ich. Nein, sagte eine warnende Stimme in mir. Das Wörtchen „wenn doch nur“ öffnet dem Scheitan Tor und Tür, habe ich vom Propheten gelernt.
Und auch, daß für den wahrhaft Gläubigen alles immer gut ist. Und das ist nur beim wahrhaft Gläubigen so: Wenn ihn Schlechtes trifft, harrt er geduldig aus, und das ist gut für ihn, und wenn ihm Gutes widerfährt, ist er dankbar, und das ist gut für ihn.

Stromausfall, Wasserknappheit, Hitze, Hitzeausschlag, Schweiß, jammernde Kinder, die Unberechenbarkeit des Stromausfalls... Den Gedanken daran, wie schön es in Deutschland im Sommer sein konnte, brauchte ich nicht wegzuschieben. Ich hatte herrliche Sommer in Deutschland erlebt, das war geschenkt von Allah. Diesen Sommer ertrank Deutschland im Regen. Und ich erlebte diesen Sommer im Sudan. Allah hatte das so bestimmt. Der Sudan war nie das Land unserer Träume gewesen. Es hatte uns sozusagen hierherverschlagen. Nein, nicht „es“ und auch nicht sozusagen. Allah bestimmt.
„Keiner weiß, in welchem Land er sterben wird.“ heißt es im Koran. Daß es wahr ist, wird jeder zugeben, nur, daß man es sich selten vor Augen hält.

So einfach ist das

Deutschland ertrank wirklich im Regen. Nun wurde schon von fünfzehn Opfern der Überschwemmungskatastophe gesprochen. Wieviele Menschen mochten in gefährlichen Situationen, dem Ertrinken nahe gewesen, dann gerettet worden sein? Ein Anstoß zum Nachdenken?
Im Stadtzentrum von Bitterfeld stand das Wasser in den Straßen jetzt schon 1,50 bis 1,80m hoch. Im Fernsehen das Bild der oberen Hälfte eines so vertraut deutschen Straßenbildes, unten die Fluten... Man sah Rettungsaktionen, ein älterer Mensch wurde in seinem Sessel, ein Katzenkorb mit Katze, säuberlich mit Gitterchen verschlossen, einige billig gekleidete junge Männer wurden in ein Boot gehievt.

Ausführlich kam eine junge Frau zu Wort, helles halblanges Haar, ein ärmelloses rohweißes Baumwollhemd mit breiten Trägern. Sie erzählte, wie sie mit einem Bekannten, der einen Transporter hätte, den ganzen Tag lang Sandsäcke gefahren hätten, bis sich dann abends die Erschöpfung bemerkbar gemacht hätte, wiederholte sich – daß die ihr so viel Zeit von der Sendezeit gaben! –, dann sei ja der Damm gebrochen. Ja, ihre Wohnung sei direkt an der Mulde, sie sei sich sicher, daß da jetzt das Wasser stünde.

Sie ging mir nicht aus dem Kopf, dieses helle, halblange Haar, das rohweiße Hemd, an ihr Gesicht erinnerte ich mich nicht mehr, aber natürlich, ihre Brüste, die sich unter dem Hemd wölbten. Sie war vielleicht Mitte, Ende zwanzig, wirkte unkompliziert, unverheiratet, kinderlos. Letztendlich würde es darum gehen, daß man Geld brauchte, um die Schäden wieder gut zu machen, so weit sie wiedergutzumachen waren. Am meisten tat es mir für die alten Menschen leid, für die war es bestimmt am schlimmsten. Die sorgsam gehüteten Erinnerungen, Fotoalben, Bilder an den Wänden würde ihnen niemand wiederbringen können, auch wenn es gelingen sollte, effektiv und schnell Hilfe zu organisieren. Ich stellte mir die verschlammten Wohnungen vor, wie wichtig doch für das Selbstbewußtsein des Deutschen seine vorzeigbare Wohnung, deren Gestaltung ist, dieser Sinn für Wohnkultur. Mitgefühl, Solidarität mit den Opfern würde förderlich sein, wenn dann die Gesellschaft als Ganzes die Folgen der Katastrophe spüren würde. Das würde Geld kosten, das man eigentlich für andere Dinge hatte verwenden wollen.

Ob der Deutschen bewußt war, daß ihre hellen Haare, das Shirt, ihr Busen mithelfen sollten, dieses Mitgefühl, diese Solidarität zu fördern? Fände sie womöglich auch ganz in Ordnung, sie wirkte unkompliziert, brauchbar.

Ich saß am Schreibtisch und holte meine Gedanken nunmehr aus Deutschland zu dem, was vor mir lag. Seit Wochen, so schien es, hing ich nun schon an denselben Koranversen fest, und sie entglitten mir immer wieder auf´s Neue. Es galt wohl, sie nicht nur auswendig zu lernen, sondern sich auch inhaltlich noch einmal neu mit ihnen auseinanderzusetzen. Ich nahm meinen deutschen Koran zur Hand, zudem das Tafsir-Buch mit den Erläuterungen zum Koran. Aufzuschreiben und damit festzuhalten, was ich verstanden hatte, hatte mir schon immer beim Denken geholfen. Und so fand ich mich wieder bei meiner eigenen Übersetzung der Verse.

Ich kämpfte mich durch den Text, aber als ich am Ende angekommen war und es noch einmal durchlas, war ich alles andere als überzeugt von dem, was ich produziert hatte. Ich wollte so gerne den Koran in meiner Sprache wiedergeben, aber das ging nicht. Ich hatte zunächst an der mir vorliegenden Übersetzung eines deutschen Muslims entlanggeschrieben, der ich, obwohl sie so viel Leistung barg, scheußliche Unlesbarkeit und Grammatikfehler vorwarf, hatte die deutsche Sprache gebogen und gezogen, hier geflickt und da gemogelt, um das, was mich am Vorliegenden störte, mit etwas anderem zu ersetzen. Das Ergebnis war nicht besser geworden. Hätte ich, als es um das Paradies ging, lieber von einem „Zuhause“ als von einer "Heimstätte" schreiben sollen? Aber beei der Hölle konnte man dann wohl kaum von einem Zuhause schreiben, auch wenn im Arabischen das gleiche Wort verwendet war. Und das Wort „Bleibe“ hatte irgendwie einen komischen Beigeschmack. Die Sprache des Koran hat nichts eigentümlich-ungebräuchliches, sie ist so lebendig und klar.

Ich faßte mir ein Herz und machte einen zweiten Anlauf. Ich schrieb einfach in einigermaßen flüssigem Deutsch, was ich selber verstanden hatte, sicherte mich nochmal ab, indem ich in der Koranerläuterung las, daß ich da auch nicht danebenlag. Gut lesbar und verständlich sollte es sein, ist doch der Koran auf Arabisch gut lesbar, nein wunderbar lesbar und so schön! Die erklärenden Klammern paßten da nicht ins Konzept, natürlich ist im originalen Koran nichts in Klammern!

Also war mein Produkt nun lesbar, und was drinstand, war wahr, nach bestem Wissen und Gewissen. Das war ja schon mal etwas. Konnte man es als Koranübersetzung bezeichnen? Sprachlich und von der Struktur her war mein Text an vielen Stellen unendlich weit vom Original entfernt. Wie weit war er um der Klarheit willen flach geworden, verglichen mit der Tiefe und Dimension des Originals, das trotzdem nicht nebelig oder diffus ist? Die Ausdrucksmöglichkeiten der arabischen und meiner geliebten deutschen Muttersprache sind zu verschieden.

Der Punkt ist wohl, daß man den Koran nicht übersetzen kann. Der Koran ist Gottes Wort, jeder Übersetzungsversuch Menschenwort. „Und sie erfassen von Seinem Wissen nur so viel, wie Er will.“ heißt es an einer Stelle im Koran... Und das, was ich da - dank Seiner Barmherzigkeit - erfaßt hatte und in meine deutschen Worte gefaßt hatte, lautete so:

Den Menschen ist die Beurteilung ihres Handelns nahegerückt,
und sie wenden sich achtlos ab.
Und wenn eine neuerliche Ermahnung von ihrem Herrn zu ihnen kommt,
hören sie sie sich an und nehmen es nicht ernst.
Ihre Herzen sind unaufmerksam und verstehen nichts.
Und die, die Unrecht tun, sagen heimlich zueinander:
„Ist der da (der Prophet) denn nicht nur ein ganz normaler Mensch wie ihr auch?
Laßt ihr euch etwa auf Zauberei ein,
und seid euch dessen voll bewußt?“
Er (der Prophet) sagte:
„Mein Herr weiß, was gesprochen wird im Himmel und auf der Erde,
und Er ist Der, Der alles hört und alles weiß.“
Sie aber sagen:
„Wirre Träume,
er (der Prophet) hat ihn (den Koran) sich nur ausgedacht,
er ist nur ein Dichter,
also soll er uns mit einem Wunder kommen,
wie die Propheten vor ihm.“
Vor ihnen gab es Wunder,
und die, die dann trotzdem nicht glaubten,
haben wir zugrundegehen lassen.
Würden sie denn glauben,
wenn wir sie ein Wunder erleben ließen?

Sag: „Wer bewahrt euch in der Nacht und am Tage
Vor dem Lieben Gott?“
Doch sie bleiben von der Ermahnung ihres Herrn abgewandt.
Oder haben sie Götter, die sie vor Uns schützen könnten?
Die können sich selbst nicht helfen
Und niemandem gegen Uns beistehen.
...
...
Er ist es, Der euch den Blitz sehen läßt,
in Furcht (von ihm erschlagen zu werden) und Hoffnung (auf den Regen),
und die schwerlastenden Wolken sich bilden läßt.
Und der Donner preist Sein Lob
Und ebenso die Engel, aus Ehrfurcht vor Ihm.
Und Er sendet Donnerschläge
Und trifft damit, wen Er will.
Und da streiten sie über Gott,
wo doch sein Zugriff heftig ist.
Ihm gilt die wahre Anrufung,
und jene, die sie an Seiner Stelle anrufen,
lassen sie ohne Antwort.
Es ist nur wie bei einem,
der beide Handflächen zum Wasser streckt,
damit es seinen Mund erreichen möge,
und es erreicht ihn nicht.
Und jede Form von Gottesdienst derer,
die den Glauben (an diese neue letzte Offenbarung Gottes) verweigert haben,
entbehrt der Grundlage.
Und vor Gott wirft sich nieder,
was in den Himmeln und auf der Erde ist,
freiwillig und widerwillig,
und auch ihre Schatten - zur Morgenstunde und am Ende des Tages.
Sag: Wer ist der Herr der Himmel und der Erde?
Sag: Gott!
Sag: Nehmt ihr euch etwa an seiner Stelle jemanden,
der euch beschützen soll,
aber nicht einmal für sich selbst Nutzen oder Schaden bewirkt?
Sag: Ist der Blinde gleich dem Sehenden?
Oder ist die Finsternis wie das Licht?

Sag: Gott ist der Schöpfer von allem,
und Er ist der Eine, Der Allbezwingende.
...
...
Für diejenigen, die ihrem Herrn nachkommen, gibt es das Beste,
und für diejenigen, die Ihm nicht nachkommen –
selbst, wenn sie alles hätten, was es auf der Erde gibt
und nochmal so viel dazu,
würden sie es hergeben, um sich auszulösen von schlimmer Strafe.
Für diese wird die Beurteilung ihres Handelns schlimm,
und ihre Bleibe ist die Hölle,
und das ist ein elendes Ende.
Ist also der, der weiß,
daß das, was dir von deinem Herrn offenbart wurde,
die Wahrheit ist,
wie jener, der blind ist?
Es erinnern sich ja nur die, die Einsicht haben,
die Verpflichtung gegen Gott einhalten
und die Verpflichtungen gegen die Menschen,
die verbinden, was nach Gottes Befehl verbunden werden soll,
ihren Herrn fürchten
und sich vor einer schlimmen Beurteilung ihres Handelns in Acht nehmen,
die geduldig ausharrten im Erstreben des Antlitzes ihres Herrn,
das Gebet verrichteten,
etwas abgaben von dem, womit Wir sie versorgt hatten,
im Verborgenen und öffentlich,
und mit Gutem Schlechtes vergelten
- jenen gehört die letztendliche Heimstätte,
die Gärten Edens, die sie betreten werden,
und mit ihnen, wer richtig handelte
von ihren Vorfahren, ihren Ehegatten und ihrer Nachkommenschaft.
Und die Engel treten herein zu ihnen durch jedes Tor und sagen:
„Friede sei mit euch, weil ihr geduldig ausgeharrt habt.“
Wahrhaft gut ist, wo sie für ewig bleiben werden.
Jene aber, die die Verpflichtung gegen Gott brechen,
die doch besteht,
zertrennen, was nach Gottes Willen verbunden sein soll,
und auf der Erde Unheil stiften –
die sind verflucht,
und wahrhaft schlecht ist, wo sie für ewig bleiben werden.

Gott weitet die Versorgung aus, für wen Er will,
und Er begrenzt sie, für wen Er will.
Und da haben sie das Leben in dieser Welt genossen,
doch das Leben in dieser Welt ist im Hinblick auf das Jenseits
nur etwas, das es zu nutzen gilt.

Der Strom war schon wieder ausgefallen, das wievielte Mal in den letzten zwei Tagen! Draußen ging ein Lüftchen, außerdem gab es Mondschein. So setzten wir uns nach dem Abendgebet alle in den Männerhof, während Chadidscha und Abudi in der Küche bei Kerzenlicht Butterbrote schmierten und Kakao machten für das Abendessen.
Zum Vollmond fehlte nicht mehr viel, der Mond war fast kreisrund. Unser Bäumchen und die Topfpflanzen sahen schön aus im Mondlicht. Musa kletterte auf einen Stuhl. Er schaute hoch zum Dach, wußte er doch gut, daß dort um diese Zeit unsere und fremde Katzen unterwegs waren. Auch Safia schaute nach oben. Der Mond stand genau über der Dachkante am Himmel. „Wenn die Katzen zum Mond wollen, das geht schon, da müssen die Menschen sie halt mitnehmen, wenn sie zum Mond fliegen!“, sagte Safia. „Stimmt,“ meinte mein Mann, „aber sie haben stattdessen einen Affen und einen Hund mitgenommen.“ „Der Mond“, sagte sie, „sieht klein aus. Aber in Wirklichkeit ist er viel größer. Und die Sterne sehen auch klein aus, und in Wirklichkeit sind sie viel größer. Und Allah ist noch viel größer.“ „Stimmt“, sagte ich. (So einfach war das.)

Nicht: am meisten
Es war zum Heulen, wie schlecht meine Gebete schon wieder waren. Besonders nach der vergangenen Hochphase, in der ich mit Leichtigkeit und schöner Stimme, ganz sicher und mühelos – ma scha Allah, Gottes Wille hatte es möglich gemacht! – abwechselnd mehrere mittellange Suren hatte rezitieren können. Nun aber las ich meine Gebete stockend, voll Unsicherheit, ob auch alles richtig war, und ich mußte mich nunmehr auf drei Suren beschränken, zwischen denen ich mich abwechselte. In den längeren Suren, die ich zuvor gelesen hatte, blieb ich plötzlich immer wieder stecken.

Vielleicht betete ich zu viel? Konnte das sein? Ich meine, was die freiwilligen Gebete und die Länge der Gebete angeht. Ehrgeiz und Disziplin hatte ich ja. Aber im Islam muß alles in einem gesunden Verhältnis stehen. Das regelmäßige, sorgsame Einhalten der Pflichtgebete zu den vorgeschriebenen Zeiten, fünfmal täglich, ist die Voraussetzung, daß Gott andere gute Taten annimmt. Es unterscheidet den Muslim vom Nicht-Muslim. Der Islam ist immer Überzeugung, dann Handeln aus dieser Überzeugung heraus. Ein reines Lippenbekenntnis genügt nicht.

Aber viele andere Dinge sind auch Pflicht. Alles muss in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen. Nicht nur Gott, auch die Mitmenschen haben ein Recht über einen, das man ihnen geben muß. Allah warnt uns: „Hast du den gesehen, der den Tag des Gerichts für eine Lüge hält? Das ist der, der das Waisenkind verächtlich wegstößt und nicht auffordert, die Armen zu speisen. Und wehe jenen Betenden,“ – wehe jenen Betenden! – „die ihre Gebete nachlässig beten, die gesehen werden wollen und die Hilfeleistung verweigern.“
Und Er, gelobt und gepriesen sei Er, erklärt uns: „Voll Segen ist Der, in Dessen Hand die Herrschaft liegt und Der alles vermag. Er hat den Tod und das Leben geschaffen, um Euch zu prüfen, wer von euch am besten handelt...“ – am besten, nicht: am meisten – „und Er ist Der Mächtige, Der Verzeihende.“
  


Nachrichten in diesem Thema
Ein recht gutes Leben. Geschichten aus dem Sudan (Teil 2) - von Regine Borrmann - 04-10-2013, 02:44 PM

Gehe zu:


Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen:
3 Gast/Gäste