09-02-2012, 12:09 AM
Frage (Nr. 85280):
Existiert das Evangelium, das auf Aramäisch geschrieben wurde, auch heute noch und wo ist es?
Antwort:
Alles Lob gebührt Allah.
Erstens:
Forscher und Spezialisten auf dem Gebiet der Religionswissenschaft und der Geschichtswissenschaft sind unterschiedlicher Ansicht hinsichtlich der vom Gesandten `Isa ibn Maryam (Jesus, Sohn der Maria, Friede sei auf ihm) verwendeten Sprache.
Die Forscher sind sich einig, dass Palästina zur Zeit von `Isa ein Mosaik war und dass seine Bevölkerung sich aus verschiedenen Nationen zusammensetzte und verschiedene Sprachen sprach. Es wurden im unterschiedlichen Ausmaße Hebräisch und Aramäisch in verschiedenen Dialekten verwendet, ebenso wie Griechisch und Latein.
Doch es entstanden Unstimmigkeiten unter ihnen, als sie versuchten, die geographischen Grenzen für jede dieser Sprachen zu definieren, und als sie die charakteristischen Merkmale der Sprachen herausfinden und festlegen wollten, in welchem Ausmaß sie sich gegenseitig beeinflussten.
Wenn wir über das Leben von Jesus in den vier Evangelien lesen, sehen wir, dass er verschiedene Gruppen von Menschen ansprach. Er richtete sich an die Bewohner unterschiedlicher Städte und Wüstenareale und er sprach die Angehörigen des höchsten Rates (Sanhedrim) an sowie die Lehrer des Gesetzes und diejenigen, die für den Tempel und die Betreuung der religiösen Angelegenheiten der Juden verantwortlich waren. Er richtete sich außerdem an den römischen Statthalter Palästinas, dessen Sprache Latein war.
Zu den aramäischen Worten, die dem Messias im Evangelium zugeschrieben werden, gehören:
„Eloi, Eloi, lama sabachthani? – was bedeutet: Mein Gott, mein Gott[b], warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27:46)
„Er nahm sie bei der Hand und sagte zu ihr: Talitha koum! – was bedeutet: Kleines Mädchen, ich sage dir, steh auf!“ (Markus 5:41)
„Jesus sagte zu ihr: `Maria`. Sie wandte sich ihm zu und schrie in Aramäisch auf: `Rabboni!` - was „Lehrer“ bedeutet.“ (Johannes 20:16)
Es scheint, dass die Diskussion in ihrer Sprache war, denn aufgrund dieser unterschiedlichen Berichte gab es eine starke Meinungsverschiedenheit unter den Gelehrten und Forschern hinsichtlich der Sprache des Messias (Friede sei auf ihm).
Ibn Taymiyah und ibn al-Qayyim waren der Ansicht, dass er in keiner anderen Sprache als Hebräisch sprach. Ibn Taymiyah sagte in al-Jawāb al-Sahīh (#3/75): „Der Messias was ein Hebräer und er sprach nichts anderes als Hebräisch.“
Und er sagte in #1/90: „Derjenige, der sagt, die Sprache des Messias sei Aramäisch oder Griechisch gewesen, der irrt sich.“
Einige von ihnen vertraten die Meinung, dass alle Beweise zeigen, dass der hauptsächliche Teil der Rede `Isas (Friede sei auf ihm) auf Aramäisch war, was die am meisten verbreitete Sprache unter den Menschen war. Er sprach außerdem in einem geringeren Ausmaß Hebräisch, die Sprache des Alten Testaments, und es scheint, dass er in Latein und Griechisch bewandert war.
Siehe „Lughat al-Masīh `Isa ibn Maryam“ von Dr. `Abd al-Azīz Schahbar (S. 112, 113), herausgegeben in dem Buch Lughāt al-Rusul.
Zweitens:
Die Muslime sind verpflichtet, an das Evangelium (Injīl) zu glauben, welches Allah Seinem Propheten Jesus, dem Messias (Friede sei auf ihm), offenbarte. Wer dies leugnet ist ein Kāfir gemäß dem Konsens der Gelehrten.
Allah sagt (ungefähre Bedeutung): „Und Wir ließen auf ihren Spuren ‘Isa (Jesus), den Sohn Maryams (Maria), folgen, das zu bestätigen, was von der Torah (Taurāh) vor ihm (offenbart) war; und Wir gaben ihm das Evangelium (Injīl), in dem Rechtleitung und Licht sind, und das zu bestätigen, was von der Tora vor ihm (offenbart) war, und als Rechtleitung und Ermahnung für die Gottesfürchtigen (al-Muttaqūn).“ (5:46).
Unser Glaube an das Evangelium erfordert, dass wir auch daran glauben, dass es existiert und dass es vollständig offenbart worden ist. Wir glauben, dass alles, was von Allah gebracht wurde, wahr ist.
Doch gibt es nichts im Islam, wodurch uns mitgeteilt wird, ob dieses Evangelium zur Zeit `Isas (Friede sei auf ihm) geschrieben und zusammengestellt wurde oder wer es schrieb oder wer es aufbewahrte und verbreitete oder ob der Messias es andere Menschen mündlich lehrte oder ob die Jünger es übermittelten und wer daran glaubte oder ob etwas davon niedergeschrieben wurde oder nicht. Dies sind Fragen, die wir heutzutage nicht sicher beantworten können, vielmehr streiten einige Forscher sogar ab, dass es überhaupt ein richtiges Evangelium gab, das in Form eines Buches zusammengetragen wurde, sondern es waren lediglich Worte, die übermittelt wurden.
Der große Gelehrte al-Tāhir ibn `Aschūr sagt in al-Tahrīr wa-l-Tanwīr (#3/26), den Tafsīr der Sūrah Āl `Imrān kommentierend: „Bezüglich des Evangeliums, so ist dies der Name der Offenbarung, die zu `Isa (Friede sei auf ihm) entsandt wurde, und es wurde von seinen Gefährten zusammengestellt.“
Scheikh Ahmad Deedat (möge Allah ihm barmherzig sein) sagte: „Wir glauben aufrichtig daran, dass alles, was `Isa (Friede sei auf ihm) sagte, Offenbarung Allahs war, und dass es das Evangelium war und frohe Botschaft für die Kinder Israel. Doch während seines Lebens schrieb `Isa nicht ein einziges Wort nieder und er wies niemanden an, etwas aufzuschreiben.“ (Hal al-Kitāb al-Muqaddas Kalimat Allah – Ist die Bibel Gottes Wort [Ist the Bible God`s Word?], Seite 14).
Doch es scheint, dass der Messias (Friede sei auf ihm) lesen und schreiben konnte. Dies kann den Worten Allahs entnommen werden (ungefähre Bedeutung): „Und Er (Allah) wird ihn (`Isa/Jesus) die Schrift, die Weisheit (al-Hikmah, d. h. die Sunnah, die fehlerlose Rede der Propheten), die Tora (Taurāh) und das Evangelium (Injīl) lehren.“ (3:48).
Ibn Kathīr (möge Allah ihm barmherzig sein) sagte: „Es scheint, dass das, was hier mit „Schrift“ bezeichnet wird, „Schreiben“ bedeutet.“ (Tafsīr al-Qur`ān il-`Azīm #1/485).
Doch wir haben keinen Beweis darüber, dass die Offenbarung zur Zeit `Isas (Friede sei auf ihm) niedergeschrieben wurde. Die Tatsache, dass das Evangelium im heiligen Qur`ān „ein Buch“ genannt wird, beweist nicht, dass es zu der Zeit, als es offenbart wurde, auf Seiten geschrieben wurde. Die Tatsache, dass es „ein Buch“ genannt wird, bezieht sich nur auf das, was bei Allah in al-Lauh al-Mahfūz ist, oder darauf, dass es etwas war, das geschrieben werden könnte. Das trifft auf den heiligen Qur`ān zu, daher nennt Allah ihn ein Buch. Vielmehr wurde er mündlich übermittelt ebenso wie er teilweise auf Häuten und Pergamenten aufgeschrieben wurde. Tatsächlich war er kein gesammeltes Buch bis zur Zeit von Abu Bakr al-Siddīq (möge Allah mit ihm zufrieden sein). Allah sagt (ungefähre Bedeutung): „Wenn Wir auf dich (oh Muhammad) ein Buch aus (beschriebenen) Blättern hinabgesandt hätten, so dass sie es mit ihren Händen befühlen (könnten), würden diejenigen, die ungläubig sind, dennoch sagen: `Das ist ja nur deutliche Zauberei.`“ (6:7).
Al-Tāhir ibn `Aschūr sagte in seinem Kommentar zur Sūrah Maryam (19:30): „Die Schrift bezieht sich auf das Gesetz, welches gewöhnlich aufgeschrieben wird, damit es nicht Änderungen ausgesetzt ist. Das Wort „Schrift“ wird auf das Gesetz `Isas ebenso angewendet wie auf den Qur`ān.“ (Al-Tahrīr wa-l-Tanwīr #8/470).
Ähnlich glauben die Christen nicht daran, dass es ein Buch gibt, das vom Messias geschrieben wurde oder von einem seiner Jünger während seiner Lebenszeit.
Scheikh ibn Taymiyah (möge Allah ihm barmherzig sein) sagte: „Was das Evangelium anbelangt, welches sie in ihren Händen halten, so bestätigen sie, dass es nicht vom Messias (Friede sei auf ihm) geschrieben wurde und dass er es auch niemandem zur Niederschrift diktierte. Vielmehr schrieben sie es, nachdem der Messias erhoben wurde (in den Himmel).“ (al-Jawāb al-Sahīh #1/491).
Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen der Offenbarung, die zu Mūsa entsandt wurde, und der Offenbarung, die zu `Isa entsandt wurde. Im heiligen Qur`ān gibt es die Bestätigung, dass erstere niedergeschrieben wurde, wie Allah sagt (ungefähre Bedeutung): „Und Wir schrieben ihm auf den Tafeln von allem eine Ermahnung und eine ausführliche Darlegung von allem. `So halte sie fest und befiehl deinem Volk, sich an das Schönste in ihnen zu halten! Ich werde euch die Wohnstätte der Frevler (al-Fāsiqūn) zeigen.`“ (7:145).
Trotzdem erscheint es durch die Worte einiger muslimischer Gelehrter so, dass das richtige Evangelium zur Zeit des Messias (Friede sei auf ihm) zusammengetragen und niedergeschrieben wurde. Man kann dies in den Aussagen von ibn Hazm in al-Fisal und von ibn Taymiyah in al-Jawāb al-Sahīh finden.
Ähnlich heißt es, dass das Wort „Evangelium“ (Injīl) für das gilt, was Allah dem Messias offenbarte, wie es im Markus-Evangelium 8:35 heißt: „wer sein Leben verliert um meinet- und des Evangeliums willen, der wird’s behalten“.
Was die Evangelien anbelangt, die heutzutage existieren, so stellen sie nicht das richtige Evangelium dar, doch niemand kann abstreiten, dass sie einen großen Teil des Evangeliums enthalten, welches Allah dem Messias offenbarte.
Ibn Taymiyah (möge Allah ihm barmherzig sein) sagte: „Diese vier Bücher, die sie das Evangelium nennen bzw. sie nennen jedes davon ein Evangelium, wurden geschrieben, nachdem der Messias in den Himmel erhoben wurde, doch sie sagen in ihnen nicht, dass sie das Wort Gottes sind oder dass der Messias sie von Gott erhielt. Vielmehr wurden in ihnen einige der Worte des Messias übermittelt sowie einige seiner Taten und Wunder. Sie sagten, dass sie nicht alles überlieferten, was sie von ihm hörten und sahen. Sie sind daher dem ähnlicher, was durch die Gelehrten des Hadīth, der Biographie und der Maghāzi Berichte (Berichte über die Feldzüge) von den Worten und Taten des Propheten (Allahs Frieden und Segen seien auf ihm), die nicht zum Qur`ān gehören, überliefert wurde. Daher sind die Evangelien, die sie ihn ihren Händen halten, eher wie die Bücher der Sīrah und des Hadīth oder wie jene Bücher, selbst wenn die meisten von ihnen wahr sind.“ (al-Jawāb al-Sahīh 2/14).
Siehe auch in der Antwort zu Frage Nr. 47516.
Islam Q&A