Mein Vater
Mir fiel ein, daß ich unbedingt mal wieder meinen Vater anrufen mußte. Es wurde wirklich Zeit. Wie immer tat es mir leid, daß ich seit dem letzten Brief so viel Zeit hatte verstreichen lassen.
Mir wurde bewußt, daß ich den Gedanken an meinen Vater wohl gerne verdrängte, war er doch mit einer Mischung aus nicht angenehmen Gefühlen verbunden. Da waren Traurigkeit, schlechtes Gewissen und so etwas wie klägliche Hilflosigkeit.
„Zu den Eltern sollst du gut sein“, steht im Koran. Und: „Mir sollst du Dank zeigen, und deinen Eltern...“
So liebevoll und sorgsam hatten unsere Eltern uns aufgezogen, mich und meinen etwas jüngeren Bruder. Selbstverständlich ging meine Mutter nicht arbeiten, um sich gut um uns Kinder kümmern zu können. Sie führte ihren Haushalt ganz vorbildlich, es blitzte bei uns zuhause vor Sauberkeit, die Wohnung war schön eingerichtet. Mama konnte wunderbar kochen und ernährte uns gesund und vernünftig. Solide Verhältnisse – zwar wurde gespart, aber es fehlte uns an nichts. Wir waren immer gut ausgestattet und versorgt und wurden in jeder Hinsicht gefördert. Es wurde darauf geachtet, daß wir ein gepflegtes Hochdeutsch sprachen. Sorgfältig wurden uns wertvolle Kinder- und Sachbücher ausgesucht. Darüber hinaus nahm uns meine Mutter regelmäßig in die Gemeindebibliothek. So wurde mein fast unstillbarer Bedarf an Lesestoff einigermaßen befriedigt, und wir bekamen viel Anregungen. Selbermachen wurde bei uns zu hause groß geschrieben. Im Frühling gingen wir auf die Erdbeerplantage für Selberpflücker, dann kochte Mama zuhause Marmelade. Zu Weihnachten durften wir beim Brötlebacken helfen, und Mama, die gelernte Blumenbinderin war, schmückte mit geschickter, glücklicher Hand den Adventstisch und den Weihnachtstisch, Papa dekorierte den Weihnachtsbaum für die Bescherung. An Ostern wurden gemeinsam Ostereier bemalt, Mama machte den Osterstrauß.
Sie konnte auch wunderbar nähen und stricken, sie hatte einen guten Geschmack, und so hatten wir oft besonders hübsche Sachen an. Die ganze Familie bastelte und werkelte, und es war feste Familientradition, daß man sich gegenseitig Selbergemachtes schenkte, sei es nun zu den Festen oder zum Geburtstag, auch den Großeltern, Tante Gertrud und anderen Verwandten. Umgekehrt wurden wir angehalten, uns für erhaltene Geschenke mit einem Brief artig zu bedanken. Mit vereinten Kräften gestalteten uns unsere Eltern liebevoll gelungene Kindergeburtstage, einmal nahm unsere Mutter sogar die ganze Kindergruppe auf Fahrrädern zum Grillplatz, und unser Vater kam dann direkt von der Arbeit auch dazu. Es wurde ein ganz toller Tag. Natürlich trieben wir Sport. Das beschränkte sich nicht darauf, daß wir Kinder ins Ballett bzw. ins Judo gehen durften, sondern wir gingen alle zusammen zum Schifahren, zum Langlaufen, zum Klettern, Schwimmen, Paddeln, Radfahren, Eislaufen. Aus Prinzip gab es bei uns zu hause keinen Fernseher, meine Eltern waren der Meinung, das sei nicht gut für uns Kinder. Und unser Leben war ja so reich und ausgefüllt, daß wir darauf gut verzichten konnten. Jeden Sonntag ging es raus in die Natur, und wir machten große, zünftige Wanderungen. Vater zeichnete dann die Route, die wir gelaufen waren, säuberlich in die Wanderkarte ein. So erwanderten wir uns den ganzen Schwarzwald und den Pfälzer Wald, kraxelten auf Burgen, suchten auch mal Brombeeren oder sammelten Pilze. Wir machten mehrere Hochgebirgstouren, ein unvergeßliches Naturerlebnis für mich.
Als dann meine Mutter plötzlich starb, ich war dreizehn und mein Bruder noch nicht ganz zwölf, hielt mein Vater durch und zog uns noch vollends groß. Daß ich später meinen Weg ganz konsequent alleine ging und dieser Weg mich weit weg führte von einem Leben nach seinen Vorstellungen - wie hart war das gegen ihn. Ich hatte mich ja nicht nur räumlich weit von ihm entfernt, sondern vor allem auch innerlich, war ihm fremd geworden.
„Zu den Eltern sollst du gut sein“, steht im Koran. Und: „Mir sollst du Dank zeigen, und deinen Eltern...“
Traurigkeit, schlechtes Gewissen und Hilflosigkeit. Das war ja immerhin etwas, meine Gefühle so hochkommen zu lassen statt sie zu verdrängen. Wenn ich sie vor mir selbst zugab, sie sozusagen in die Hand nahm und näher betrachtete, sie benannte, verloren sie ihre destruktive, lähmende Macht. Im Islam gab es doch auf alles eine Antwort.
Was die Traurigkeit anging: Ich mußte auf Allah vertrauen, daß Er mir gut will, daß alles gut für mich ist. Auch wenn etwas weh tut. Alles ist gut für den Gläubigen. Und das ist nur beim wahrhaft Gläubigen so: Wenn ihn Schlechtes trifft, harrt er geduldig aus, weil er es ja annimmt als eine Prüfung von Allah, und das ist gut für ihn, und wenn ihm Gutes widerfährt, ist er Gott dankbar, und das ist gut für ihn. Denn sowohl für die Standfestigkeit als auch für die Dankbarkeit erwarten ihn bei Allah ein Lohn, der trotz aller Beschreibungen im Koran oder in den Worten des Propheten letztlich unbeschreiblich ist, jenseits, über der menschlichen Vorstellungskraft.
Mein schlechtes Gewissen nun war sicher berechtigt. Immer wieder hatte der Prophet den Menschen gepredigt, wie ernst die Verpflichtung gegen die Eltern zu nehmen ist. So hatte ein Mann schließlich seine greise Mutter auf seinen Schultern getragen, Rollstühle gab es damals ja noch nicht. Dafür erwartete er sich ein Lob von Abdullah Ibn Omar, einem der Gefährten des Propheten. Doch dieser sagte dazu, daß er seiner Mutter damit nicht einmal genug Dank für eine einzige Wehe bei der Geburt erwiesen habe.
Einmal hatte mein Vater so nebenbei erzählt, wie er fast weinend am meinem Bettchen gestanden hätte, als ich zum ersten mal krank war. Wohl gerade, weil es so gar nicht seine Art war, so etwas zu sagen, war mir das hängen geblieben.
Schlechtes Gewissen – blieb, Gott um Verzeihung zu bitten und zu versuchen, es von nun an besser zu machen.
Aber wie bloß? Da blieb diese elende Hilflosigkeit... Man ist nicht hilflos, kann man doch Gott um Hilfe bitten, ja, man soll es sogar. Gott will gebeten sein, Er liebt es, wenn wir Ihn bitten, dazu sind wir ja da. Er hat zu allem die Macht. Und unser Vermögen besteht darin, uns bittend an Ihn zu wenden. Fest überzeugt sein sollen wir dabei, daß Er unsere Gebete erhört und erfüllt, wenn auch nicht immer gleich und nicht immer so, wie wir uns das vorstellen. Gott sei Dank, denn sonst würden ja jeden Moment plötzlich Goldstücke vom Himmel regnen und uns erschlagen.
Wenn ich so recht feste an meinen Vater dachte, konnte ich, vielleicht gerade, weil er nicht vor mir stand, die Fremdheit, die zwischen uns entstanden war, vergessen, wieder die alte Liebe aufspüren, die ich als kleines Mädchen für meinen Papa empfunden hatte. Wie sehr hatte ich ihn doch geliebt, er war einfach alles gewesen für mich. Und da war dann dieser ungeheuere Schmerz darüber, daß es mir nie gelungen war, ihm den Islam begreiflich zu machen...
Gleich als ich Muslim geworden war, hatte ich ihm in einem Brief geschrieben, was ich da Tolles entdeckt hatte. Für ihn kam das völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Zu wenig, ja fast überhaupt nicht hatte ich ihm doch zuvor erzählt, was in mir vorging, wußte er ja noch nicht einmal, daß ich zum Glauben an Gott gefunden hatte. Er meinte damals wohl, ich sei verrückt geworden.
Später hatte ich keinen meiner artig berichtenden Briefe geschrieben, ohne zu versuchen, ihm darin auch ein bißchen vom Islam zu erklären. Den Weg zu seinem Herzen zu finden, war mir nie gelungen, immer hatte er alles nur als Besserwisserei, Belehrungs- und Missionierungsversuche empfunden. Eines meiner längsten Gedichte hatte ich im Gedanken an ihn geschrieben, es war streckenweise auch recht gut, inhaltlich, aber der Ton stimmte nicht. Bei ihm kam wohl immer nur an, daß ich seine Vorstellungen, daß ich ihn ablehnte. Und da wünschte ich so von ganzem Herzen das Allerbeste für ihn – den Islam! Aber mein Herzenswunsch, daß mein Vater Muslim würde, war bisher unerfüllt geblieben.
Depressionen
Nach dem Telefongespräch mit meinem Vater schrieb ich ihm einen Brief, der anders war als das, was ich ihm in vorangegangenen Briefen üblicherweise geschrieben hatte. Statt mich zu bemühen, unser Leben und die Fortschritte der Kinder in netter Weise zu beschreiben, schrieb ich nun einmal von mir selbst, davon, was meinem Übertritt zum Islam vorangegangen war und wovon er damals keine Ahnung gehabt hatte, weil ich es tunlichst vor ihm verborgen hatte. Wer gibt schon gern zu, ja gesteht sich überhaupt selbst ein, daß er Depressionen hat?
Die Wahrheit war, daß ich schon in der Schulzeit Depressionen gehabt hatte, aber damals ließ sich das noch kaschieren. Als ich studierte, wurde es dann richtig schlimm. Das ging so weit, daß ich mit dem Gedanken an Selbstmord spielte. Der U-Bahn-Zug in London schien mir eine magische Anziehungskraft auszuüben...Sich einfach vor den Zug schmeißen, damit die Qual ein Ende hätte...
Was mich abhielt, war der Gedanke, daß dann ja jemand hinterher die Sauerei würde wegputzen müssen. Ich war Au-Pair-Mädchen in einer Familie mit zwei kleinen Buben und dachte auch, wie das für die wohl sein würde, wenn sie später einmal erfahren würden, daß sich ihr Au-Pair-Mädchen umgebracht hätte. Was es für meinen Vater und für meinen Bruder bedeutet hätte – daran dachte ich gar nicht, meine Gedanken reichten viel zu kurz in dem Zustand, in dem ich war.
Wieder zurück in Deutschland hatte ich schlimme Schlafstörungen und geisterte nachts durch das Studentenwohnheim und durch die leeren Straßen von Neckargemünd. Das tolle Kommentar einer Mitbewohnerin, die evangelische Theologie studierte und Pfarrerin werden wollte: „Ach, weißt du, dreh dich doch einfach auf die andere Seite und schlaf weiter.“ Eines nachts, als es gar nicht mehr weiter zu gehen schien, kam ich auf meinen Konfirmandenspruch: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen.“ In Not war ich schon wirklich. Ich betete das Vaterunser und betete es wirklich. Dann schlief ich, und ich schlief gut.
Tage später erst wurde mir bewußt, was eigentlich geschehen war. „...und du sollst mich preisen...“ Ja, sollte ich jetzt Halleluja singen, oder wie? Dann ging im Wohnheim die Diskussion um Gott und Glauben los. Die drei muslimischen Mitbewohner, die wir hatten, - ein heruntergekommener Afghane, eine strebsame Doktorantin aus Bangladesh und eine scheue Iranerin – schwiegen leider schön still.
Auch nachdem ich Muslim geworden war, hatte ich noch lange Depressionen. Aber mit dem Koran hatte ich eine Medizin, die sicher und stetig wirkte.
Da fühlte ich diese Lebensangst, die sich nirgends festmachen ließ und mich trotzdem ganz lähmte, und da las ich: „Allah mutet keiner Seele zu, was über ihre Kräfte ginge. Für sie ist, was sie durch ihr Handeln erworben hat an Gutem, und gegen sie ist, was sie sich durch ihr Tun eingehandelt hat an Schlechtem.“ Und: „Vertraue auf den Lebendigen, Der nicht stirbt.“
Da schien mir das Leben so gar nicht wert, gelebt zu werden, und ich las: „Wißt, daß das Leben in dieser Welt nur Spiel ist und nichtiges Gerede, Schmuck, gegenseitiges Angeben unter euch, Vermehren von Besitz und Kindern – so wie reichlicher Regen, der zur Freude der Bauern alles reichlich wachsen läßt. Doch dann vertrocknet es, und du siehst es vergilben, dann ist es zermahlen. Und im Jenseits warten harte Strafe sowie Allahs Verzeihung und Sein Wohlgefallen. Und das Leben in dieser Welt ist nur etwas, das es zu nutzen gilt, obwohl es einem falsche Hoffnungen macht.“
Da war ich die Hochs und Tiefs meines Lebens so müde, fragte mich, wozu dieses Tief bis zu seinem Ende durchstehen, wenn doch nach dem nächsten Hoch erfahrungsgemäß auch wieder das nächste Tief kommen würde. Und las: „Wenn Wir den Menschen von Uns Barmherzigkeit erfahren lassen und sie ihm dann entziehen, verliert er die Hoffnung und wird undankbar. Und wenn Wir ihm gnädig sind, nachdem ihn Schaden angerührt hat, sagt er einfach: ´ Ich habe die schlechten Zeiten hinter mir!´, und wird übermütig und angeberisch. Anders ist das nur bei jenen, die geduldig ausharrten und richtig handelten. Diese erwartet Verzeihung und großer Lohn.“
Da kostete es mich so viel Kraft, mich aufzuraffen, um die selbstverständlichsten, alltäglichsten Dinge zu erledigen. Der kleinste Mißerfolg, jede unerwartete Schwierigkeit brachten mich draus. Und ich las: „Wenn die Erde erbebt in ihrem Beben (das ist am Tag des Gerichts), die Erde ihre Lasten auswirft (gemeint sind die begrabenen Toten) und der Mensch sagt: `Was ist mit ihr los?` An diesem Tag teilt sie mit, was sie zu berichten hat, weil ihr Herr es ihr eingegeben hat. An diesem Tag kommen die Menschen in Gruppen, und es wird ihnen vor Augen gehalten, wie sie gehandelt haben. Und wer Gutes tut im Gewicht eines Sonnenstäubchens, wird es sehen, und wer Schlechtes tut im Gewicht eines Sonnenstäubchens wird es sehen.“
Da fühlte ich mich wie in einem tiefschwarzen Tunnel, der endlos schien, und las: „Sag:´Ich flüchte mich zum Herrn des anbrechenden Tages vor dem Übel, das Er geschaffen hat, vor dem Übel der Dunkelheit, wenn sie sich ausbreitet...“ und las: „Allah ist das Licht von Himmel und Erde, Er ist Licht auf Licht.“
Als der Brief zuendegeschrieben war, fühlte ich mich auf eine Art erleichtert. Aber es hatte mich auch sehr mitgenommen, mich an all das zu erinnern. Doch erinnern sollen wir uns, wie oft steht im Koran: "Erinnern sie sich denn nicht?", und das ist tadelnd gemeint. Die Erinnerungen hochkommen lassen, auch wenn sie schmerzhaft, peinlich, unangenehm sind. Man kann sie dann sortieren und säuberlich wieder wegpacken, sorgsam entscheiden, was davon man mit anderen teilt, und was lieber nicht. Das hat nichts mit dem Seelenstriptease zu tun, den wir als Studenten meiner Generation praktizierten....
Ja, die Erinnerungen hatten mich mitgenommen, und ich wußte, das war gut so. Mich daran zu erinnern, wie schwach und bedürftig ich gewesen war und wie groß dann die Barmherzigkeit, Gottes Barmherzigkeit gewesen war, Der mir den Glauben an Ihn und den Islam geschenkt hatte. So wurde mir bewußter, daß es doch letztlich in Gottes Hand lag, was aus uns allen würde.
„Und wenn Allah dich anrührt mit Schaden, so gibt es niemanden, der diesen beheben könnte außer Ihm. Und wenn Er für dich Gutes will, so gibt es niemanden, der Seine Gunst abwenden könnte. Er schenkt sie, wem Er will unter Seinen Dienern. Und Er ist Der Verzeihende, Der Barmherzige.“
Mein Bruder
Mein Bruder war Muslim geworden. Das war nun schon etwa ein Jahr her, aber irgendwo hatte ich es noch gar nicht richtig begriffen. Über lange Jahre hinweg war es eigentlich nur mein Mann gewesen, der ihm ab und zu vom Islam erzählt hatte, und oft hatte ich daneben gesessen und gedacht: O Gott, was soll mein Bruder denn mit dem Propheten Salomo (zum Beispiel) anfangen, das interessiert den doch nie im Leben!
Mein Bruder und mein Mann mochten sich sehr, und mein Bruder kam gern zu uns zu Besuch. Bei seinem ersten Besuch in Granada in Südspanien war ich gerade erst schwanger mit Chadidscha. Ohne Kommentar sah er meinem Kopftuch zu und meinem eifrigen Beugen beim Beten. Einmal drückte ich ihm den Napf mit dem Katzenfutter in die Hand für die Katze auf der Dachterrasse und sagte: "Das bringst du jetzt in scha Allah - so Gott will - der Katze hoch, und dann...." Er störte sich und meinte: "Warum denn in scha Allah, ich bring das jetzt auf jeden Fall hoch!" Ich sagte: "Das weißt du überhaupt nicht, kann doch sein, daß dir vorher die Decke auf den Kopf fällt!" Er runzelte die Stirn und warf dann einen Blick nach oben auf die Decke des Treppenhauses, das vor vielen, vielen Jahren wohl mal recht prachtvoll gewesen war. In der Decke gab es einen großen Riß... Das sah ich in diesem Moment auch zum ersten Mal. "Na ja, vielleicht hast du ja recht...", meinte er zögernd.
Bei einem anderen Besuch bei uns in Südspanien war Chadidscha dann schon auf der Welt. Da war Andi bei einer unserer Fahrten über die spanische Hochebene, die Meseta, dabei. Ich will nicht behaupten, daß ich diese Fahrten nie vergessen werde, denn das stimmt nicht, einmal wird man alles vergessen.
Das ist so: Am Tag des Gerichts werden jene herbeigebracht, die im diesseitigen Leben am meisten begnadet waren mit weltlichen Gütern, die alles hatten, was man sich vorstellen kann, von Gesundheit über ein glückliches Familienleben, Kindern, Ansehen, Reichtum, Frieden, die aber zu den Bewohnern des Feuers gehören. Sie werden nur für einen Augenblick in das Feuer getaucht und dann gefragt: Habt ihr schon jemals etwas Schönes erlebt? Und sie sagen zu Allah: Nein, sicherlich nicht, o unser Herr. Und dann werden jene herbeigebracht, die im diesseitigen Leben den schlimmsten Prüfungen ausgesetzt waren, Krankheit, Familienprobleme, Mißerfolg, Gewalt, Ungerechtigkeit, Krieg, Armut, was kann man sich noch alles vorstellen? Aber sie gehören zu den Bewohnern des Paradieses. Sie werden nur für einen Augenblick ins Paradies getaucht und dann gefragt: Ist euch jemals etwas Schlimmes widerfahren? Und sie sagen zu Allah: Nein, sicherlich nicht, o unser Herr.
Deshalb also will ich nicht behaupten, daß ich diese Fahrten über die Meseta nie vergessen werde. Ich kann nicht anders als Worte so auf die Goldwaage zu legen.
Aber diese Fahrten waren ein sehr beeindruckendes Erlebnis. Man fuhr über die absolut flache Ebene, kein anderes Auto weit und breit, und rund herum am Horizont die Berge, hinter denen man das Meer wußte. Und der Himmel war so groß und hoch. "Schauen sie denn nicht auf die Kamele - wie Wir sie geschaffen haben? Und zum Himmel, wie Wir ihn gewölbt haben? Und zu den Bergen, wie Wir sie aufgerichtet haben? Und zur Erde, wie Wir sie ausgebreitet haben? So ermahne denn und erinnere an Gott, du kannst nicht mehr als erinnern und ermahnen. Du hast keine Gewalt über sie."
Auf jener Fahrt nun mit meinem Bruder kam die Gebetszeit, mein Mann suchte einen geeigneten Platz für unser Gebet. Er fragte mich vorher, ob ich denn die erforderliche rituelle Reinheit für das Gebet hätte, ich bejahte. Als er das Auto geparkt hatte - die kleine Chadidscha schlief tief und fest neben Andi auf dem Rücksitz - und ich aussteigen wollte... verlor ich meine rituelle Reinheit. Man verliert sie zum Beispiel, wenn man auf die Toilette geht, aber auch, wenn man nur Blähungen hat. Dann muß man vor dem Gebet noch einmal die Waschung vollziehen. Wir hatten kein Wasser mehr. So fuhren wir weiter ohne zu beten, füllten an einer Tankstelle Wasser auf und suchten erneut ein geeignetes Plätzchen. Ich verrichtete die Waschung zum Gebet, wobei Sadek mir das Wasser goß, er breitete unsere Gebetsteppiche oder ein Tuch aus, und wir verrichteten unser Gebet. Ich erinnerte mich gar nicht mehr an den Vorfall, mein Bruder aber wohl, und er erzählte ihn mir dann, ja, etwa zwölf Jahre später.
Was ich noch weiß, wie sehr ich diese Gebete auf der Meseta unter freiem Himmel doch liebte... "Im Namen Gottes, dessen, Der allen barmherzig ist im Diesseits und Dessen Barmherzigkeit im Jenseits für die Gläubigen sein wird. Gelobt sei Gott, Der Herr der Welten, Der allen barmherzig ist im Diesseits und und Dessen Barmherzigkeit im Jenseits für die Gläubigen sein wird. Dir allein dienen wir, und Dich allein flehen wir um Hilfe an. Leite uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht derer, denen Du zürnst und nicht derer, die in die Irre gehen." Und: "Schauen sie denn nicht auf die Kamele - wie Wir sie geschaffen haben? Und zum Himmel, wie Wir ihn gewölbt haben? Und zu den Bergen, wie Wir sie aufgerichtet haben? Und zur Erde, wie Wir sie ausgebreitet haben? So ermahne denn und erinnere an Gott, du kannst nicht mehr als erinnern und ermahnen. Du hast keine Gewalt über sie."
Szenenwechsel, Jahre später in Deutschland, mittlerweise hatten wir fünf Kinder, und dann kam Ibrahim dazu, und es wurden es sechs. Recht beengt lebten wir in einer zu kleinen Wohnung in München, das Geld war knapp. Trotzdem kam uns mein Bruder besuchen. Da schrieb ich dann mein erstes Gedicht für ihn, und auch gleich ein zweites.
Nachtrag zu deinem Besuch
Für Andi, meinen einzigen leiblichen Bruder
Bildung
ist schon was Schönes.
Aber es kommt doch auch noch drauf an,
was da wozu gebildet wird
und für wen.
Der Ursprung der Schulpflicht
lag in Preußen.
Der Bedarf des Staates nach Beamten
sollte gesichert werden - wußtest du das?
Du, sei mehr als eine Ware
auf dem Arbeitsmarkt.
Sauberkeit und Ordnung
sind hohe, gute Werte,
doch sie sind nicht das Höchste,
eine Wohnung ein Museum,
Besucher nur spärlich,
Platz für Kinder schon gar nicht?
Überhaupt, das mit den Kindern -
ein Kind zu haben,
das sei: eine Tatsache schaffen?
Auch so schaffst du eine Tatsache,
dein Leben geht vorbei.
Einmal wirst du alt sein,
das geht schneller, als man denkt,
alt, aber kein Opa.
Diene nicht weiter
den Götzen dieser Gesellschaft,
die untergehen wird,
wie andere vor ihr auch.
Daß sie grausam und hart ist,
trotz all der gepflegten Parks,
der Blumenbeete
und der Gartenzwerge,
das weißt du selber gut genug.
Nicht selber grausam und hart zu werden
- dazu mögen Hanfblätter ein Mittel sein,
aber kein gutes,
du weißt es wohl.
(Was, wenn sie alle sind?)
Vergiß deine Sehnsucht nicht
nach dem Weichen,
danach, sanft behandelt zu werden,
liebevoll und gut,
gerecht und nachsichtig,
und verzweifle nicht,
wenn du sehen mußt,
daß du ja selbst oft genug nicht so bist.
Der so ist,
ist Gott.
Niemand hat Gott für sich gepachtet -
keine Kirche und auch sonst niemand,
sondern Er ist
ganz einfach Gott,
der Schöpfer von Himmel und Erde,
Gott.
Allah.
Wenn du dir eingestehst,
daß du Ihn brauchst,
verlierst du nichts.
Dich Ihm zu unterwerfen
macht dich frei und stark.
Zu sagen: "Lieber Gott"
ist gar nicht lächerlich,
auch wenn Religion schon so oft
benutzt wurde,
um Menschen hinters Licht zu führen.
Gott verlangt nichts von dir,
was über deine Kräfte ginge.
(Im Gegensatz zu den Menschen,
die kriegen nie genug.)
Und Er hilft dir, wirklich zu tun,
was in deinen Kräften steht.
Gott ist gut -
die Menschen sind es nur bedingt.
Laß uns uns bemühen, gut zu sein,
mit Gottes Hilfe.
Laß uns bitten, daß das,
was zwischen dir und mir ist und geschieht,
gut sein möge,
mit Seiner Erlaubnis.
Wo Güte ist,
da ist Platz für Kinder.
Kinder sind ein Geschenk von Gott.
Nimm es an.
Man schafft sie sich nicht an
wie ein Auto. Oder auch nicht.
Eine gute Ehe -
da wäre Platz für Kinder.
Wieviele gute Ehen kennst du?
Wo sollte die herkommen?
Gott hat zu allem die Macht.
Gott kann dich reich beschenken.
Er verteilt, bestimmt,
in Seiner Weisheit.
Ich will dir nichts verkaufen,
mir auch nicht deine Anerkennung erwerben,
sage nicht: Folge mir, mach´s so wie ich.
Ich mache es ja selber so gut nicht.
Dieses ungelenke Gedicht,
und wenn du hier vor mir stehst,
da fehlen mir die Worte ganz.
Nur so als Hinweis:
Es gibt da einen, dem zu folgen es sich lohnt,
auch wenn er verspottet,
als Lügner und als Spinner bezeichnet wurde.
Und wird.
Er war weder dieses noch jenes,
Er war ein Prophet,
wie vor ihm Jesus, Mose, Abraham
und viele andere.
Propheten, du,
die gab es wirklich.
Gott ließ die Menschen nicht im Stich.
Der Mensch ist kein Tier,
stammt auch nicht vom Affen ab,
komm mir nicht mit der heiligen Wissenschaft,
die Wissenschaft muß uns dienen,
nicht wir ihr,
wenn sie heilig ist,
ist sie ein Götze.
Der Mensch hat eine Sprache,
die weiter reicht
als die Tänze der Biene
und was sonst noch so herangezogen wird
- Wunder der Natur, nein, des Schöpfers -,
doch der Mensch spricht und denkt,
nicht eine Sprache,
viele,
gelobt sei Gott,
nein, der Mensch
ist nicht ein besseres Tier.
Und Sprache macht aus
die Verbindung zwischen dir und Gott,
du kannst sagen: "Lieber Gott!",
wenn du es kannst...
Und Gott hat sich offenbart
über die Sprache.
Tatsächlich.
Darf ich dir da etwas erzählen,
worüber ich mehr weiß als du,
der Koran, das ist wirklich Gottes Wort,
ich bin mir da ganz sicher,
bitte, glaub mir doch,
du weißt doch,
Sprache, das ist wirklich mein Metier,
gelesen habe ich schon immer,
Leseratte, die ich war,
wie verrückt -
bitte, glaub´ mir doch.
Ich red´ da über etwas, das ich weiß,
und möchte so gern,
daß dich dieses Wissen erreicht...
Das andere,
daß ich Gott erreichen kann mit meinem Wort,
das weiß ich auch.
Inzwischen,
zeitweise war ich mir da
auch noch nicht so sicher.
Wenn du Gott bittest,
aus dem Wissen heraus,
daß keiner sonst dir helfen kann,
auch du selbst dir nicht,
wenn du ihn so bittest,
wirklich ernst gemeint,
in aller Ehrlichkeit -
nein, fühl´ dich nicht lächerlich,
all die, die über dich lachen würden,
sehen dich ja nicht dabei,
doch Gott sieht dich wohl.
Und hört dich.
Und erhört dich.
Gott ist barmherzig.
Barmherzig, barmherzig.
Auch wenn das Wort so altmodisch ist.
Und wir brauchen Seine Barmherzigkeit.
Barmherzig, Sanft,
Gerecht und Weise,
Liebevoll.
Vergelt´s Gott
Das Gefühl, dir etwas schuldig zu sein.
Als ihr beide da am Flughafen standet,
dein liebes Grinsen,
ich euch meine zwei frühgeborenen Jüngsten
in die Arme drücken durfte,
- das war schon was.
Und nicht das einzige.
Vergelt´s Gott.
In diesem Fall ist das nicht nur so ein anderes Wort für Dankeschön.
Das Wissen darum, daß da wirklich etwas vergolten wird, von Anderer Seite,
ganz unabhängig davon,
ob ich´s dir vielleicht mal vergelten kann oder nicht,
dieses Wissen,
das wünscht ich dir als Lohn.
Drei Jahre später besuchte mein Bruder uns im Sudan. Da war Musa noch nicht auf der Welt. Plötzlich hatten mein Bruder und ich uns so viel zu sagen, die Worte fehlten mir nicht mehr, es war, als wäre ein Damm gebrochen. Verwundert schaute mein Mann zu, wie wir uns da auf Deutsch unterhielten, was wir uns denn plötzlich alles zu erzählen hätten? Nun, ihm sollte es recht sein, er ließ uns halt zu zweit reden... Als mein Bruder abgereist war, konnte ich nicht anders, ich mußte dieses lange Gedicht schreiben, es war wieder ein Nachtrag zu seinem Besuch.
Besuch meines Bruders
Und da war er schon wieder,
dieser Übermut,
der dem Menschen so eigen ist.
Allah
hatte mich so viel
Barmherzigkeit von Sich
spüren lassen.
Es ward Ramadan.
Ramadan, und ich lebe noch,
lebe in einem Land,
über dem der Gebetsruf frei
ertönt,
im Kreise meiner Familie,
in der bis jetzt
noch keiner fehlt.
Wie schnell sind die Kinder herangewachsen,
tapfer
fasten sie mit,
das ist keine Frage.
Ihre Freude, Übermut fast,
die ersten Tage nach dem Fastenbrechen,
sie haben es geschafft -
Kinder -
ihr Übermut ist keine Sünde.
Das eigene Glück,
wenn das Fasten ganz leicht fällt,
das gegenseitige Verständnis,
wenn die Anstrengung spürbar wird.
Dann ward mir
die Vollzeit - Haushaltshilfe beschert,
mitten im Ramadan,
lange hatte ich eine gesucht,
mein Alltag wurde
angenehm.
Zeit und Ruhe
Koran zu lesen,
das größte Geschenk.
Auch
der Besuch meines Bruders
wurde Wirklichkeit
im gesegneten letzten Drittel
des Ramadan.
Bestimmung schien
spürbar zu werden.
Gute Gespräche. Endlich.
Diesmal
fehlten mir die Worte nicht.
Gepriesen sei Gott.
Fasten.
Gebete.
Koran.
Alles schien zu stimmen.
Wie leicht denkt der Mensch:
Das steht mir zu.
Wie sicher war ich mir:
Allah erhört mein Gebet
gleich hier und heute.
Doch verdient
hatte ich es nicht.
Ich hatte begonnen,
zu träumen...
Das Fest des Fastenbrechens
fiel früher als erwartet,
wir würden beten,
jenes gemeinsame Gebet
im Sand
unter freiem Himmel,
blitzeblau,
am frühen Morgen,
strahlende Sonne,
die breite Reihe der Männer,
in den weiten, weißen Gewändern,
die Reihe der Frauen
dahinter,
mit den Kindern,
alle festlich gekleidet,
bunt und farbenfroh,
auf einem der weiten Plätze
dieser friedlichen Stadt,
die Ansprache nach dem Gebet.
Noch jedes Mal
hatte ich geweint
in diesem Gebet
am Ende des Ramadam,
geweint vor Glück,
Muslim zu sein,
in dieser Reihe eingereiht zu sein,
geweint vor Glück
und Dankbarkeit
gegen Gott,
Der so Groß ist.
Wir würden beten
noch vor dem Abflug meines Bruders
am Nachmittag,
o Allah,
wenn Du ihm doch
das Herz öffnen würdest
für den Glauben an Dich,
o Allah,
wenn es doch
Wirklichkeit würde,
mein Bruder
Muslim,
o Allah --
die Vorstellung,
auch ihn
in dieser Reihe stehen zu wissen.
O Allah!
Zum ersten Mal
empfand ich Vorfreude
auf das Fest des Fastenbrechens
statt der Traurigkeit,
daß der Ramadan zu Ende ging. Traurigkeit,
wie all die Jahre zuvor,
daß er vorbei war,
was nicht getan war
an guten Taten
nicht mehr getan würde,
vorbei.
Und der Traurigkeit,
daß der Festtag
unter den Menschen, von denen ich abstamme,
unter den Menschen, unter denen ich aufwuchs,
in dem Land, aus dem ich komme,
ganz gewöhnlicher
Alltag,
Arbeitstag,
ist.
Ramadan ging vorbei,
und sie wußten es
noch nicht einmal,
ob sie nicht
vielleicht
manchmal
doch etwas spürten vom Segen,
der in dieser Zeit liegt?
Die Traurigkeit der Trennung,
die der Preis war dafür,
in dieser Reihe zu stehen,
doch nein, kein hoher Preis,
gelobt sei Allah.
Gelobt sei Allah.
Gelobt sei Allah.
Traurig
sollte ich grundsätzlich
nur sein über mich selbst,
meine Fehler.
Doch ich
empfand Vorfreude,
Vorfreude auf das Fest und
Freude über die Vorfreude,
zum ersten Mal nicht
Traurigkeit,
mein Bruder war ja da.
Voll Schwung
brachte ich die Wohnung auf Hochglanz,
so gehört das doch für einen Festtag,
den Koran
legte ich auf die Seite,
nach oben,
backte für die Gäste, die erwarteten,
Plätzchen, ganze Berge.
Mein Bruder
macht sich nichts aus
Kuchen und Süßkram.
Als er sauer wurde
angesichts meiner
Vorbereitungen,
keine Zeit für ihn,
das war doch sein letzter
Tag hier bei uns,
da merkte ich es:
Das war er schon wieder gewesen,
der Übermut.
Gott hatte mir gegeben,
zu sicher war ich mir gewesen,
daß Er noch mehr geben würde
- den ersehnten
Islam meines Bruders -
hatte vergessen, daß
es darum gar nicht ging,
sondern darum, richtig zu handeln,
so zu handeln, wie es der Prophet gelehrt hat:
Den Gast ehren.
Sich um seine Anverwandten kümmern.
Den Islam erklären.
Reue.
Ich hoffe, daß Allah sie annahm.
Ein letztes gutes Gespräch mit meinem Bruder.
Das beste.
Muslim wurde er nicht.
Zum Festtagsgebet
kamen wir zu spät.
Die Reihe der Frauen
war total krumm,
zu spät gekommen
war das nicht mehr zu ändern.
Mein Gebet war so schlecht,
ob Allah es annahm
sehr fraglich.
Der restliche Tag
- der letzte Tag mit meinem Bruder -
belanglos nett,
Abschied,
jetzt müßt ihr aber los,
daß ihr rechtzeitig am Flughafen seid,
nein,
mein Bruder
war nicht Muslim geworden.
Allah unser Schöpfer
bestimmt,
nicht wir.
Tut, was Er will.
Es ist Seine Schöpfung,
niemandem
ist Er Rechenschaft schuldig.
Wer Rechenschaft ablegen muß,
das sind wir.
Den Geraden Weg weitergehen.
Keine Zeit verlieren.
Das Leben ist kostbar.
Es geht vorbei.
Sich konzentrieren,
tun,
was zu tun ist,
vorwärts.
Zum Islam aufrufen,
erklären
ist eigentlich nicht genug.
O ihr Menschen,
dient Gott,
unterwerft Euch Ihm,
Ihm allein,
nutzt euer Leben,
schmeißt es doch nicht einfach so
weg.
Das mit dem Jenseits stimmt,
ich habe da
genaue Information.
"Der Koran liegt uns heute so vor, wie ihn die Zeitgenossen Mohammeds aus dessen Munde vernahmen", bestätigt Rudi Paret, Orientalistikprofessor in Tübingen, kürzlich verstorben. Nachdem von Seiten der Orientalisten - die ersten waren übrigens Jesuiten - jahrhundertelang versucht worden war, das Gegenteil zu beweisen.
Ich selber
weiß das noch mal anders,
tiefer,
in mir,
ohne daß ich da
wissenschaftliche Argumente
herbeiziehen müßte,
weiß,
daß der Koran
unverändert
ist,
unveränderlich bleibt,
der Koran, Gottes Wort -
auswendig gelernt,
rezitiert,
Tag um Tag, Jahr um Jahr,
wie vor mir
Tausende
- Millionen? Milliarden! -
Gläubiger,
ein Ruf,
den wir mit dem Herzen
hören dürfen.
Die Schönheit Gottes Wortes
weiß ich dir nicht zu beschreiben,
nein, Dichtung
ist das ganz bestimmt nicht,
Gott bewahre! Wirklich nicht,
wie natürlich auch Mohammed
kein Dichter war.
Friede sei mit ihm.
Kaufmann war er,
lesen und schreiben konnte er nicht,
das war damals noch was besonderes.
Waise, doch aus bester Familie,
sein guter Charakter,
seine edlen Umgangsformen
führten zu Ansehen und Erfolg
in Mekka,
dem Mittelpunkt der Arabischen Halbinsel,
die ihrerseits so etwas war wie eine
"Dritte Welt"
zwischen den blühenden, hochentwickelten Kulturen
Roms, Persiens und Indiens.
Daß es Gott gab,
daran herrschte unter den Arabern
kein Zweifel,
doch sie dienten Göttern, Götzen,
selbstgemachten,
fürchteten deren Fluch,
erhofften deren Gunst,
beteten sie an und baten sie.
Als Mohammed die erste Offenbarung empfang,
war seine älteste Tochter
bereits verheiratet.
Mohammed empfing die erste Offenbarung,
da war er allein
in einer Höhle der Berge um Mekka.
Schon länger hatte er
die Einsamkeit gesucht, doch
das heißt nicht,
daß er nun philosophiert und meditiert hätte,
bis er schließlich seine Gedanken
zu einem präsentablen Ergebnis
geordnet hätte.
Das Erlebnis der ersten Offenbarung
war ungeheuerlich,
erschütternd,
erfüllte Mohammed mit Furcht,
mit der Furcht, nicht tragen zu können,
was ihm da auferlegt wurde.
Chadidscha, Mohammeds Frau,
war eine Frau,
wie es sie in der ganzen Menschheit
nur sehr wenige gegeben hat.
Als Mohammed aus den Bergen
nach hause kam, berichtete,
zutiefst erschüttert,
blieb ihr Denken klar,
ihr Blick ungetrübt.
Sie wußte: Ihr Mann war gut,
besser als alle anderen.
Gott würde ihn nicht im Stich lassen.
Mohammed war
der letzte Gesandte Gottes an die Menschheit,
erwartet von Juden wie von Christen,
die ihn in ihren Büchern beschrieben fanden.
Ihr Mann Mohammed
war dieser letzte Prophet,
Chadidscha war die erste,
die an ihn glaubte.
Es folgten
die jungen Menschen in der Familie,
die beiden Pflegesöhne,
die vier Töchter,
Mohammeds bester Freund,
dann auch weitere, einzelne
der angesehenen Männer Mekkas.
Die Mehrheit des Establishments
wollte von etwas Neuem jedoch
nichts wissen,
Neid war da im Spiel,
Angst um die eigene Rolle,
Treue gegen die Vorfahren,
auf die man so stolz war,
wenn auch zu Unrecht.
Und schlicht und einfach
Hochmut.
Daß Mohammed weder verrückt
noch ein Dichter
noch ein Wahrsager
war,
das wußten sie schon,
auch, daß er nicht log,
sie kannten ihn schließlich
von klein auf,
er war für Ehrlichkeit
und Redlichkeit
bekannt.
Doch loslassen,
was sie hatten,
Mohammed folgen -
sie wollten es nicht.
Jene, die ihm folgten,
waren mutige Menschen.
Sie wußten nicht,
was vor ihnen lag
auf diesem Weg, dem Geraden,
den sie einschlugen.
Den Koran hielten sie noch nicht in der Hand,
denn er wurde
im Laufe von 23 Jahren offenbart.
Sie wußten,
daß dieser Gerade Weg, zu Ende gegangen,
zu Gott führt,
das allein war wichtig.
Sie wußten nicht,
daß sich der Islam ausbreiten würde,
einst reichen würde von
Spanien bis nach Indonesien,
das hätten sie sich wohl
kaum vorstellen können,
verspottet wie sie waren,
und unterdrückt.
Wer niemanden hatte, der ihn schützte,
keiner einflußreichen Familie angehörte,
der wurde gefoltert und gequält.
So starb Someyya,
eine freigelassene Sklavin,
für ihren Glauben, eine Frau.
Die Zahl der Muslime in Mekka
nahm zu.
Das Establishment
bekam zunehmend Bedenken.
Das Übel
sollte mit der Wurzel ausgerottet,
Mohammed getötet
werden.
Der Gesandte Allahs verließ Mekka
auf Gottes Befehl.
Als ich selber
Muslim wurde,
wußte ich das alles nicht.
Ich hatte mich nie
mit islamischer Geschichte befaßt,
auch nicht mit islamischer Kultur,
studierte andere Sprachen,
mein Blick
ging in eine andere Richtung.
Daß es Gott gab -
den Glauben daran
hatte ich angenommen,
das war ein Entscheidung gewesen,
eine Erlösung,
ein Mich-Beugen
vor der Wahrheit.
Ja, mein Gott,
es gibt Dich, Du bist Mein Schöpfer,
ich Dein Geschöpf,
nicht mehr
und nicht weniger.
Etwas Großes war da geschehen
in mir, etwas Gewaltiges
hatte sich verändert.
Doch mein Leben lief weiter
in den gewohnten Bahnen.
Gott zu bitten
war, was neu war.
Ich bat ihn,
er möge mich
eine gute Christin sein lassen.
Die Theologie-Studenten
an der Heidelberger Uni
hatten nicht viel zu sagen.
Abendmahl auf altkatholisch,
na ja,
das hatte wenig mit mir zu tun.
Im Bibelkreis
fühlte ich mich seltsam.
Einige Stellen im Neuen Testament
gefielen mir ganz gut,
die unterstrich ich,
das war wohl die Bergpredigt,
das mit dem Gottvertrauen.
Wenn von Urchristen die Rede war,
spitzte ich die Ohren,
das
hätte mich interessiert,
doch Genaues
wußte da eigentlich niemand.
In der türkischen Familie,
auf die ich stieß,
wußten sie es genau:
Ich mußte Muslim werden.
Wie denn? meinte ich erstaunt.
Sich dazu bekennen,
daß Gott Ein Einziger ist,
kein Problem,
doch Mohammed sein Gesandter
- woher sollte ich wissen,
daß das stimmt?
Was sie mir über Gott sagen könnten,
wollte ich wissen.
GOTT IST EWIG.
GOTT IST EINZIG:
ER HAT NICHT GEZEUGT ODER GEBOREN,
UND ER WURDE NICHT GEZEUGT NOCH GEBOREN,
UND NIEMAND IST IHM GLEICH.
Er hat nicht gezeugt und wurde nicht gezeugt...
Jesus Gottes Sohn,
das hatte ich nie geglaubt.
Er hat nicht gezeugt, wurde nicht gezeugt,
ja,
das stimmte ja ganz einfach,
was die da sagten,
so einfach war das.
Diese einfachen Menschen,
eine türkische Gastarbeiterfamilie,
die wußten da etwas -
danach hatte ich gesucht.
Gut, und nun das mit Mohammed?
Sie erklärten mir,
wie es sich mit den Propheten verhält:
Menschen,
beauftragt mit einer Botschaft
an Menschen, immer derselben:
Zu glauben an Gott
und Ihm zu dienen,
ein Prophet nach dem anderen,
historisch greifbar,
und sie bestätigten sich gegenseitig.
Ich wurde Muslim,
am gleichen Tag noch,
sozusagen
ein Kopfsprung, aus Angst vor dem Zögern,
das war schon immer meine Art gewesen.
Ich wurde Muslim.
Das war
Barmherzigkeit von Allah.
Wie wahr
war nun die Wahrheit,
die ich gefunden hatte?
Einzelheiten, die mir erklärt wurden,
erwiesen sich später zum Teil
als unrichig und falsch.
Mit dem Koran
kam ich zunächst
gar nicht zurecht.
Kein Wunder. Was ich las
waren die Worte von Menschen,
die übersetzt hatte,
was sie für Lüge hielten,
und was doch
die Wahrheit ist.
Der Koran
war von Gott gekommen.
Gott hat ihn herabgesandt
auf Seinen Propheten,
der Koran
ist Gottes Wort.
Gott hat ihn
in arabischer Sprache
offenbart.
Wir Deutschen
müssen da vielleicht
kurz schlucken,
Volk der Dichter und Denker,
das wir sind,
stolz auf unsere Sprache,
die wir lieben,
ja sogar
einmal
das Salz der Erde
wollten sein...
Wo war denn
unsere geliebte deutsche Sprache
zur Zeit des Propheten?
Die hocharabische Sprache
ist seit 1400 Jahren
unverändert.
Hocharabisch
erwies sich als lernbar
für mich
- Barmherzigkeit von Allah,
Der gelobt sei.
Der Koran selbst,
der echte, unverfälschte,
originale, arabische,
war dann, was mich hielt
in Augenblicken des Zweifels,
die es durchaus gab.
Wahre Worte,
wonach ich schon, bevor ich Muslim war -
überall gesucht,
sie hier und da auch gefunden hatte,
hier ein bißchen
und dort, verstreut,
doch der Koran nun
rein,
weder vermischt mit Lüge
noch Unwichtigem.
Einfach nur annehmen können,
ohne sortieren zu müssen,
stimmt das nun für mich
oder nicht.
Einfach nur annehmen.
Wo kann man das sonst?
Das Wort der Menschen
ist der Fehler voll,
der Unwahrheit,
bleibe wachsam.
Doch der Koran -
annehmen,
das läßt wachsen.
Die Schönheit Gottes Wortes
weiß ich dir nicht zu beschreiben,
auch nicht,
wie es ist,
diesen Glauben im Herzen zu tragen,
erlebt zu haben,
wie er wuchs,
klein, schwach, von Zweifeln geplagt,
dann stärker wurde.
Wenn du es wirklich
wissen willst,
mußt du nicht erst Arabisch lernen.
In dir,
um dich
sind Zeichen genug.
Du mußt Muslim werden,
ja,
entscheiden,
daß du sie annehmen willst:
Gottes Barmherzigkeit.
Entscheiden,
daß du ihn einschlagen willst,
den Weg zu Gott.
Mein Glaube eine feste Burg?
Die Frage war noch offen.
Fast möchte ich meinen:
Das stimmt so nicht.
Mein Glaube ist ja kein
Gedankengebäude.
Mein Glaube ist ein Geschenk von Allah,
ich hoffe, ich erweise mich
dessen würdig.
Wenn ich nicht aufpasse,
könnte er mir wieder abhanden kommen,
dieser Glaube, doch
das sei Gott vor.
Es kommt darauf an,
sich für das, was richtig ist,
zu entscheiden,
immer neu.
Möge Gott uns leiten.
Leitung zu folgen,
Rechtleitung anzunehmen,
das ist kein Krücke,
nur Klugheit
und Sieg darüber,
mehr sein zu wollen, als man ist.
Gewonnen haben wir erst,
wenn wir Gott ergeben
gestorben sind.
Und dann wurde mein Bruder doch Muslim. Das war bei seinem letzten Besuch ein Jahr darauf, Musa hatte gerade begonnen, das Stehen zu üben und zog sich am Gitter seines Kinderbettchens hoch.
Wieder hatten wir uns so viel zu sagen, und mir schien, als sähe ich einer Pflanze zu, die niedergedrückt worden war und sich nun ganz allmählich aufrichtete. Einmal kam Fatima aufgeregt zu mir und flüsterte mir ins Ohr: "Mama, Mama, Onkel Andi hat sich von uns zeigen lassen, wie man die Waschung zum Gebet verrichtet!" Ich ließ das erst mal auf sich beruhen, sagte nichts.
Dann kam der Tag, an dem ich ganz früh am morgen, genauer gesagt am Ende der Nacht, vor Anbruch der Morgendämmerung und dem Beginn der Zeit für das Morgengebet über den Hof zur Toilette ging. Da stand mein Bruder, und auf meinen erstaunten Blick, was er denn zu dieser unmöglichen Zeit hier wolle, meinte er etwas von wegen Durchfall. Am nächsten Tag um die gleiche Zeit stand er wieder da! Ja, also, verbarg er seine Verlegenheit hinter einem etwas ruppigen Ton, ob ich ihm denn nicht vielleicht mal zeigen könne, wie das Gebet denn geht?
Jetzt war ich doch überrumpelt und wußte so schnell gar nicht, was nun richtig war. Eigentlich muß man doch erst vor zwei Muslimen das Glaubensbekenntnis ablegen, damit wird man Muslim.
Da muß man sagen: Ich bestätige, daß es keinen Gott gibt außer Allah, und daß Mohammed der Gesandte Allahs ist. Auf Arabisch: Aschhadu an la ilaha illa llah wa aschhadu anna muhammadan rasulullah. Aber jedenfalls, ob er denn schon die Waschung für das Gebet gemacht hätte? Ja, ja. Ich zeigte ihm dann, wie das Gebet geht. Das war schwieriger, als ich gedacht hätte. Längst machte ich das alles automatisch und mußte erst mal nachdenken, um es langsam und verständlich auseinanderzuklamüsern. Ich hatte leider kein Büchlein oder eine schriftliche Anleitung bei der Hand und schon gar nicht eine Kassette wie die, mit der ich fünfzehn Jahre zuvor selbst das Beten gelernt hatte.
Auch für meinen Mann kam die Neuigkeit unerwartet. Wohl gratulierte er meinem Bruder gleich strahlend, doch dann mußte er erst mal kurz überlegen und kam zu dem Schluß, daß er ihn nun am besten mit in die Moschee nehmen müsse, damit er dort in aller Öffentlichkeit sein Glaubensbekenntnis ablege. Darauf war mein Bruder nun überhaupt nicht scharf, ging dann aber doch mit. Die allgemeine Freude und Herzlichkeit, die ihm dann in der Moschee entgegengebracht wurden, fand er womöglich ganz schön, meinte aber gleichzeitig auf der Hut sein zu müssen. Auf keinen Fall wollte er sich vereinnahmen lassen, sich für irgendeine Sache gewinnen lassen, die nicht die seine gewesen wäre, es ging ihm um Gott, um seine Beziehung zu Gott, das mußte ehrlich bleiben. Ich verstand ihn gut.
Sadek schenkte ihm seine weiße Dschelabija, sie sah toll an ihm aus. Ich konnte den Blick gar nicht mehr abwenden, wollte meinen Bruder nur noch anschauen, so ging das nicht! Mir wurde bewußt, daß es nicht die Dschelabija war. Das Gesicht meines Bruders strahlte wie der Mond in einer klaren Vollmondnacht. Das war kein Wunder, oder doch. Wenn ein Mensch sich der Wahrheit beugt, den Islam annimmt und Muslim wird, vergibt Gott ihm in diesem Augenblick alle Sünden - von daher das Strahlen, das Licht...
Wie sollte es nun weitergehen? Mir wurde bewußt, wie anders doch die Situation meines Bruders war als meine, fünfzehn Jahre zuvor. Damals hatte Allah meine Gebete erhört und mir einen guten Mann geschenkt. In seinem Schutz hatte ich außerhalb Deutschlands leben und in Ruhe alle lernen können, was ich brauchte, um meinen Islam zu leben. Es war mir eine Erlösung gewesen, den widerlichen, arroganten Studentenchargon der vorangegangenen Jahre hinter mir zu lassen und mich nunmehr, wenn auch mühsam, mit meinem Mann auf Spanisch und Englisch über das Wesentliche zu verständigen. Ich lernte Arabisch, und mit meinen Sprachkenntnissen wuchs in mir auch ein neuer Mensch.
Mein Mann meinte, Andi solle doch zu uns in den Sudan kommen. Als deutscher Staatsbürger könne er da bestimmt ganz leicht gut verdienen! Da war sich mein Bruder nicht so sicher. Er war eine solide, bodenständige Natur. Den ganzen Tag nur Arabisch um sich hören, nö, wirklich nicht, das wurde ihm ja schon im Urlaub zu viel. Also gut. Eigentlich könnte er doch aber in Deutschland für meinen Mann Gebrauchtwagen aufkaufen, so nebenbei, so viel Arbeit sei das gar nicht, als lukrativer Nebenjob? Mein Mann brauchte dringend jemanden, der ihm seinen immer unzuverlässiger werdenden Geschäftspartner in Deutschland ersetzt hätte. Nur übersah er, daß mein Bruder keinerlei Ader fürs Geschäftemachen hatte und auch nicht das Zeug zum Geschäftsmann, er war gelernter Winzer, dann gelernter Zimmermann und nun schließlich Lehrer für Kunst, Werken und Sport. Und eine große Begeisterung für Autos hatte er auch nicht. Ich versuchte, das meinem Mann verständlich zu machen.
Ich meinerseits fand, mein Bruder müsse sich nun ans Koranlernen machen. Ich würde ihm alles beibringen! Nun, also zuerst mal wollte er sich das mit dem Gebet aufschreiben. Ich versuchte ihm, die Aussprache so gut ich sie selbst inzwischen, nach vielen Jahren, konnte, genau zu erklären, also, das "Ha", das kommt ganz vom Ende im Mund, so als faucht man ein bißchen, ja ein normales "ha" wie das deutsche, das gibt es auch noch, und... Puh, das wurde zu viel. Mein Bruder bemühte sich sehr, nicht die Geduld zu verlieren. Also bitte, ich sollte ihm das jetzt einfach genau und deutlich vorsprechen, ganz langsam bitte, und er würde sich das dann so aufschreiben, wie er es hörte! Nun mußte ich mich zusammennehmen und es ihn einfach so schreiben lassen, wie er es hörte, ja, ja, stimmte schon so ungefähr. Bis wir einen Teil des Gebetes so durchgearbeitet hatten, waren wir beide geschafft und vertagten den Rest auf eine nächste Sitzung.
Mein Bruder flog nach Deutschland zurück, natürlich ganz normal in Jeans und Hemd, die Dschelabija kam in die Tasche. Subhanallah, Allah bestimmte es so: Genau als er noch auf dem Rückweg im Zug von Frankfurt zu seinem Wohnort saß, passierte der elfte September. Wir saßen im Sudan vor dem Fernseher und versuchten, zu begreifen, was da geschah. Das wurde nun ein bißchen viel auf einmal, erst der ersehnte, aber doch unerwartete Islam meines Bruders und nun das...
"Meinen denn die Menschen, es sei damit genug, daß sie sagen: Wir haben den Glauben angenommen, ohne daß sie auf die Probe gestellt würden? Mit Sicherheit wird Gott jene in Erfahrung bringen, die es ehrlich meinten, und Er wird in Erfahrung bringen, wer gelogen hat."
Mein Bruder würde seinen Weg selbst finden müssen und selbst gehen müssen. Allah würde ihn nicht im Stich lassen.
Papa ist da
„Papa ist gekommen,“ sagte mir Fatima mit leiser Stimme. „Er sitzt vor dem Kühler und sagt, da rührt er sich jetzt nicht mehr weg, weil ihm so schrecklich heiß ist.“
Ich drehte meine rechte Hand mit der Handfläche nach oben und drückte alle fünf Finger ausgestreckt zusammen, so daß sie aussah wie eine große Blütenknospe. Bei den Spaniern war mir diese Geste zuerst begegnet. Bei ihnen bedeutete sie: „Da sind oder waren ganz viele Leute, es war gepfropft voll.“ Das war für das spanische Sozialleben eine wichtige Information. Unter den Arabern dann hatte ich mir die Geste auch selbst angewöhnt.
Bei ihnen bedeutete sie lustigerweise etwas ganz anderes, nämlich: „Einen Augenblick Geduld, bitte.“
Wohl hatte ich die Hoftüre gehört. Ich saß mit Hamudi in der vorderen Diele auf der Bettkante. Das Bett stand nur so da, um den großen Raum zu füllen, nie schlief jemand darauf. Heute türmte sich auf ihm die Wäsche, denn der Himmel war bewölkt. Eventuell würde es nachts regnen, da hatten wir sie lieber gleich abgehängt, es war ja schon alles trocken.
Hamudi und ich waren dabei, kurz den neuesten Abschnitt seiner Sure zu wiederholen. Am nächsten Tag hatten sie in der Schule Koran. Hamudi schien ziemlich viel Respekt vor dem Koranlehrer zu haben. Als ich Fatima geschickt hatte und sie versuchte, dem Lehrer zu erklären, daß Hamudi so etwas wie eine Sprachbehinderung habe und er doch bitte ein bißchen gnädig mit ihm umgehen solle, hatte er gemeint: „Papperlapapp! Der Hamudi spielt bloß gern, das ist alles.“ Einmal hatte er ihm eine Bemerkung ins Heft geschrieben, was Hamudi ganz dringend auswendig lernen müsse. Daraufhin hatten wir das ganze Wochenende – Donnerstag und Freitag – fleißig geübt. Daß weniger oft mehr ist, hatte ich inzwischen begriffen. Lieber die Kinder mehrmals am Tag kurz rannehmen und dann wieder spielen lassen, als ihnen in einer Riesensitzung die Geduld überzustrapazieren. Der Lehrer hatte ihn dann sehr gelobt, obwohl Hamudi die Verse nur einigermaßen konnte. Offensichtlich hatte er Fatima doch verstanden. Hamudi strengte sich sehr an. Er wollte, daß der Lehrer mit ihm zufrieden sei.
Ganz sicher, so dachte ich, hatte er, genau wie ich, die Hoftür gehört und nun Fatimas leise Worte. Aber er reagierte nicht, machte ganz selbstverständlich weiter mit dem ihm so eigenen Ernst, es fehlten noch ein paar Verse. Das wollte ich nicht stören. Als er zuende rezitiert hatte, standen wir auf und gingen in die mittlere Diele.
Mein Mann saß auf der Baumwollmatratze vor dem Kühler, halb auf dem Po, halb auf dem Rücken, die Beine angewinkelt. Musa saß auf seinem Schoß und ließ sich Papas Oberschenkel als Rückenlehne gefallen. Er trug Vaters Stoffhut übergestülpt, nur sein Kinn schaute heraus. Mein Mann hatte sich einen kleinen roten Bleistiftspitzer ins linke Auge geklemmt (wo kam denn der jetzt her – wir hatten doch vor kurzem verzweifelt nach einem Spitzer gesucht) und war offensichtlich am Faxenmachen für die Kinder.
Abudi saß neben ihm auf der Matratze und stand sofort artig auf. „Komm, Mama, setz dich.“ Hamudi legte gleich loß: „Hast du uns die Spitzer und die Radiergummis mitgebracht?“ „He,“ sagte ich zu ihm. „So schnell geht das nicht. Er wußte doch noch gar nicht, daß wir welche brauchen.“ Es war erst etwa zwei Stunden her, seit wir festgestellt hatten, daß keine mehr da waren und beschlossen hatten, deren Bedarf anzumelden.
Ich sagte: „Assalamu aleikum. Wie geht´s?“ und setzte mich neben meinen Mann auf die Matratze. Abudi setzte sich vor mich auf den Boden. Chadidscha sagte: „Wir haben Papa grad erzählt, daß Musa beim Abendessen richtig `chubs` gesagt hat. (`Chubs` ist arabisch für Brot.) Da hat Papa Musa gefragt: `Chubs?`, und Musa hat zum Eßtisch gezeigt! Er hat alles genau verstanden!“ Mein Mann sagte: „Assalamu aleikum. Puh, heute bin ich den ganzen Tag bloß mit dem Auto unterwegs gewesen.“
Musa wiegte sich mit dem Oberkörper und stieß mit den Beinen, als wollte er sagen: „Los, Papa, mach noch mehr Faxen!“ Mein Mann sagte: „Miäs? Miäs?“ Das ist arabisch für Ziegen. Musa wollte gleich zeigen, daß er das sehr wohl auch verstand und krabbelte von Vaters Schoß herunter. Neben dem Wasserkühler führte eine Tür in den hinteren Hof, in dem unsere Tiere – ein Gazellenpärchen, die Ziegen, Hühner und jede Menge Katzen – lebten. Wie alle Türen in unserem Haus bestand sie unpraktischerweise aus einem eisernen Rahmen und mehreren Pressglasscheiben. Die unteren waren bereits zerbrochen, da war der Rahmen leer. Wenn es mittags ordentlich heiß war und wir einfach ein riesengroßes, rundes Tablett auf den Boden stellten, um so direkt vor dem Kühler zu mittag zu essen, streckten die Ziegen ihre Köpfe zur Türe herein. Es sah aus wie auf alten Gemälden, idyllisch. Nur, daß Musa ihnen dann manchmal großzügig etwas von unserem Mittagessen abgab, wenn wir nicht aufpaßten.
Jetzt ging Musa zur Tür. Er hatte Papas Stoffhut vom Kopf gezogen, um etwas zu sehen. Und schwups, warf er ihn durch die Öffnung, die die zerbrochenen Scheiben hinterlassen hatten, hinaus zu den Ziegen. Direkt neben der Tür saßen die Hühner auf einer Stange unter dem Kühler und schliefen schon. Ob sie wohl auch im Schlafen kackerten? Falls ja, hätte es sie sicher wenig interessiert, ob gerade Vaters Stoffhut unter ihrer Stange lag... Mein Mann stand schnell auf: „Mein Hut!“ und angelte sich die Mütze. Früher wäre er wohl sitzen geblieben und hätte gesagt: „Macht nichts!“ Aber mit der Zeit war der Schaden, der durch derartige großzügige Gelassenheit entstanden war, doch viel geworden.
Er setzte sich wieder hin. Vor ihm standen Chadidscha und Fatima. „Ma scha Allah, Allah hat das so gewollt! Wie hübsch Chadidscha geworden ist“, dachte ich. Und: „Fatima ist fast genauso groß wie sie, obwohl die beiden drei Jahre auseinander sind.“ Safia saß auf der anderen Seite neben meinem Mann. Sie erzählte etwas Abstruses, das niemand verstand, mit ulkiger, keckeriger Stimme. Ich sagte irgendetwas wohlwollend Bedeutungsloses, damit ihre Erzählung einen Abschluß fände und nicht so unverstanden einsam im Raum stehen bliebe. „Typisch weibliches Gesprächsverhalten, natürlich“, dachte ich. Und dann: „Na und?“
Abudi hatte sich gegen meine Beine gelehnt, und ich kraulte ihm den Kopf. Heute war es harmonisch gewesen zwischen uns. Obwohl er – wie fast immer – keine Hausaufgaben aufhatte, hatte ich ihn in Ruhe gelassen. Er war am Vortag so gut gewesen im Koran, und am Tag zuvor im Rechnen, fürs Lernen auf die nächste Klassenarbeit am Ende der Woche war es noch zeitig. Wenn Faxen für die Kleinen gemacht wurden, wünschte sein Vater von ihm Zurückhaltung, konnte es nicht ausstehen, wenn Abudi sich in den Mittelpunkt spielen wollte. Die Faxen waren für die Kleinen. Abudi hatte seine eigene Rolle, wenn er zum Beispiel als einziger und weil er der älteste war, mit Vater fort durfte, wenn sie zu zweit zum Vogelmarkt gingen, er mitdurfte ins Geschäft oder dabeisitzen, wenn Vater Besuch hatte. An meine Beine gelehnt war Abudi schön still und ließ sich den Kopf kraulen.
Plötzlich begann Hamudi zu schreien und mit den Füßen nach Ibrahim zu stoßen. Mein Mann wollte ihn anfahren, doch ich begriff, daß Ibrahim angefangen und zuerst mit den Füßen gestoßen hatte, und ging schnell beschwichtigend dazwischen: „Also hör mal, Ibrahim, du kannst doch nicht einfach nach Hamudi mit den Füßen stoßen!“ Ibrahim rollte sich zwischen mir und meinem Mann auf der Baumwollmatratze zusammen. „Hamudi hat mich gestört!“ Wo kam das nun plötzlich her? Ibrahim war den ganzen Nachmittag so vergnügt gewesen, immer wieder waren sich seine Mundwinkel und seine Ohrläppchen fast begegnet, dieses sein so unbeschreiblich tolles Lachen! Ach so. Er war wohl eifersüchtig auf Musa, der inzwischen wieder auf Vaters Bauch thronte und seine Position in vollen Zügen genoß.
Bis sie ein Ende fand. Mein Mann stand auf, ging in sein Büro und schloß die Tür hinter sich. Die Kinder ließen sich ohne weiteres zu Bett bringen, ohne Streitereien, ohne Theater.
Neues, Unbekanntes
Ich kam nach dem Morgengebet aus meinem Zimmer und Chadidscha war schon schwungvoll am Putzen, zu meinem Erstaunen. Mein Lob dafür ließ sie ohne Kommentar. Dann erinnerte ich mich, daß ihre Freundin zu Besuch kommen würde. Auch ich begann zu putzen, was sollten wir auf die Haushaltshilfe warten. Es würde noch genug Arbeit für sie übrigbleiben. Alles war von Staub überzogen. Wie entspannend war dieser Kampf gegen den Staub, angesichts all meiner Zweifel, ob es richtig war, daß ich all diese vielen Worte aufschrieb, diese Inflation der Worte...
Es pfiff draußen. Das bedeutete, daß wahrscheinlich gleich ein Müllauto vorbeikommen würde. Das gab es seit einigen Monaten. Es fehlten zwar regelmäßige Zeiten für die Müllabfuhr, aber auch so war es schon ein gewaltiger Fortschritt. Der Küchenmülleimer war bereits geleert, aber im Hof standen noch Tüten mit dem Kehrricht des Hoffegens. Sie waren leicht, die konnte Hamudi raustragen und in den großen Müllsack neben dem Hoftor stopfen. Dann überlegte ich mir, daß wir Abudi doch bemühen mußten. Die Müllmänner würden den Sack ausleeren und ihn ein Stück weiter die Straße hinunter einfach vom Wagen werfen. Wenn wir ihn uns nicht gleich holten, würde ihn sich irgendwer aus der Nachbarschaft nehmen, und wir würden einen neuen Müllsack kaufen müssen.
Als das Müllauto vorbeigefahren war, hörte ich Abudis und Hamudis Stimmen laut im Hof, als stritten sie sich, ich wollte sie schon schelten. Hamudi kam in mein Zimmer: „Mama, die Männer haben den Sack gestohlen!“ Abudi kam aufgebracht hinterher: „Kannst du nicht still sein?“ Dann erzählte er mir, was er mir vielleicht eigentlich nicht hatte erzählen wollen? Die Müllmänner hätten den Sack so in den Wagen gehoben, daß die Hälfte des Mülls nun vor unserem Haus auf der Straße läge. Die kleine Tüten hätten sie gar nicht mitgenommen, den Müllsack aber wohl. Ich fragte: „Haben sie das absichtlich gemacht?“ „Ja, die machen das, weil wir Weiße sind.“ „Sind das Muslime?“ „Nein, das sind Dschunubis.“ „Nun, du kannst dir überlegen, ob wir Allah bitten, es ihnen heimzuzahlen oder ihnen verzeihen.“ Da war er plötzlich ganz ruhig und nachdenklich.
Etwas später ging er zum Laden am Ende der Straße, wir brauchten Brot und einen neuen Müllsack. Laut lamentierend kam er zurück. Ein Junge aus der Nachbarschaft habe ihm seinen großen, harten Fußball gegen den Bauch gekickt. Deshalb sei er ihm nachgerannt und habe dabei den neu gekauften Müllsack verloren. Er habe dem Jungen einen Ziegelstein auf den Kopf schmeißen wollen, ja, am liebsten hätte er ihn blutverschmiert vor sich auf dem Boden liegen sehen! „Abudi, das geht aber zu weit!“ Sogar die Erwachsenen seien auf den Streit aufmerksam geworden. Er habe dann bei der Mutter des Jungen geklingelt, um sich zu beschweren, aber die habe ihn gar nicht ernst genommen.
Es tat mir leid, was Abudi am Vormittag passiert war. Das wußte er auch gut. Um so erstaunter war er dann, als ich ihn trotzdem erbarmungslos in die Zange nahm: Nein, kein Planschen im Schwimmbassin, bis du den Koran endlich gelernt hast und deine Rechenaufgaben gemacht sind, die eigentlich schon am Vortag fällig waren! - Ungläubig ob so viel Hartherzigkeit von Seiten seiner Mutter wand er sich, wehrte er sich, das konnte doch nicht wahr sein! Doch, es blieb dabei. Die ganze vergangene Woche hatte er schon vor sich hingebummelt. Fatima desgleichen: erst Koran und Rechenaufgaben abliefern, dann Planschen. „Und Musa schläft gerade. Wenn er aufwacht, müßt ihr ihn natürlich mitplanschen lassen... (und auf ihn als den Kleinsten Rücksicht nehmen, weshalb sie darauf nicht gerade große Lust hatten und sich deshalb mit ihren Aufgaben beeilen würden).“
Fatima fügte sich schnell. Ihre Rechenaufgaben fielen ihr leicht. Abudis waren nicht leicht für ihn, und in seiner Wut darüber, daß Mama diesmal den Machtkampf gewonnen hatte, kriegte er sie natürlich auch nicht hin. Alles war falsch. Das hatte jetzt keinen Sinn mehr, ich mußte in die Küche, kochen, also gut, das Ende von Mutters Strenge. Fröhliches Getobe der Kinder im Wasser vom Vortag, über das sich nachts eine Staubschicht gelegt hatte. Eine rechte Dreckbrühe war das geworden.. Der Staub ist eigentlich nichts Unhygienisches in diesem Sinne, sagte ich mir.
Am nächsten Tag hatten wir bereits früh am Morgen keinen Strom mehr. Und bald kam auch kein Wasser mehr aus der Leitung. Es fehlte der Strom, um welches zu pumpen. In der Küche schwitzte ich nicht schlecht. Zum Gebet übergoß ich mich mit etwas Wasser aus der Wassertonne, das aber schon zur Neige zu gehen drohte. Ich war müde, hatte ich doch bis tief in die Nacht geschrieben.
Es war heiß. Die großen Ventilatoren hingen unbeweglich an der Decke. Auch der Wasserkühler, eine Art archäische Klimaanlage, stand stumm und trocken. „Allahu akbar!! Allahu akbar!“ riefen die Kinder begeistert, als der Kühlschrank wieder zu brummen begann und die Ventilatoren sich langsam in Bewegung stzten. Der Strom war wieder da. Schnell, den Kühler einschalten. Und die Wasserpumpe. Gott sei Dank, es gab Wasser in den öffentlichen Leitungen, das wir pumpen konnten.
Abdullah mußte noch mal ran. Nachdem er aufgegeben hatte, sich zu sträuben, begriff er alles im Handumdrehen und löste die Aufgaben ohne weiteres. Ob man etwas Neues, Unbekanntes verstehen kann, hängt so sehr davon ab, ob man bereit ist, es aufzunehmen. Mit dem Islam ist das auch so.
Vor Freude wurde er dann ganz übermütig. Während ich noch im Gebet stand, dem Abendgebet gleich nach Sonnenuntergang, war er längst fertig mit Beten. Laut und fröhlich zog er mit Hamudi und Ibrahim im Gefolge durch Haus und Hof, so eine Art Gänsemarsch, und sie sangen etwas. Im Kreis marschierten sie durch die drei Dielen, die ineinander übergehen, an meinem Zimmer vorbei, durch zwei Höfe. Mir wurde bewußt, daß ich mit meinen Gedanken bei den Jungen war, nicht bei meinem Gebet. Es galt doch aber, nicht nur körperlich dem Leben, das da rund um mich pulste, den Rücken zu drehen. Was half war der Gedanke, daß man ja eines Tages all dies, dieses Leben würde hinter sich lassen müssen.
Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 20-10-2013, 07:26 PM von Regine Borrmann.