03-10-2013, 07:43 PM
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 30-03-2014, 11:43 AM von Regine Borrmann.)
Ein recht gutes Leben
Von sieben Kindern, innerem Reichtum und... Glück (Teil 1)
Regine Borrmann
Allein unter freiem Himmel
Ich hatte es nicht immer so schön wie an dem Tag, an dem ich begann, dieses Buch zu schreiben. Vor allem: Ich war einmal allein gewesen, ganz allein. Damals hatte ich noch nicht einmal gewußt, daß es Gott gibt.
Da lief ich mit Rucksack in Schleswig-Holstein an der Ostsee entlang nach Norden. Meine Semesterferien lagen früh im Jahr, es war Ende Februar oder Anfang März, eine denkbar ungeeignete Jahreszeit, um in Deutschland Wanderfreuden zu genießen. Ich wollte ja eigentlich auch etwas ganz anderes. Doch daß die freie Natur so ungemütlich und abweisend sein würde, hatte ich nicht erwartet.
Außer mir war niemand zu fuß unterwegs. Man konnte sich nirgends hinsetzen, weil es zu kalt war. So aß ich meine Vesperbrote im Stehen. Die Ostsee war mit Eisschollen bedeckt. Daß ich somit etwas besonderes erlebt hatte, etwas was man später würde erzählen können, interessierte mich zu dieser Zeit schon nicht mehr. Ich hüpfte von einer Eisscholle zur nächsten, ein paar Meter weit. In einem Wanderführer hatte ich mir eine Route ausgesucht, die ich laufen würde. Die Jugendherbergen, in denen ich übernachtete, waren fast leer.
Einmal verspätete ich mich abends, es wurde dunkel. Ich lief durch einen kahlen Wald, der so ganz anders war als unser Kiefernwald im Süden. Ein Glück – Glück? – daß der Mond schien. Ich hatte keine Angst. Als ich in der Herberge ankam – fast hatte ich mich in dem Wald verirrt –, war diese geschlossen. Es war außerhalb der Saison. Die Herbergseltern waren gut zu mir. Jedenfalls zogen sie einen Leinenschlafsack aus dem Schrank, schlossen einen der Schlafsäle auf und brachten mich unter. Am Morgen bekam ich auch ein Frühstück.
Oder im Sommer vor meinem einsamen Wandern im Norden. Ich hatte mir Fernandos Fahrrad ausgeliehen und treppelte über die spanische Hochebene. Kam mir ganz toll vor, als ich meinen Schlafsack einfach in einem Stoppelfeld ausrollte und allein unter freiem Himmel übernachtete. Das südliche Sternenbild, zirpende Grillen, Weite, Freiheit...
Die Nacht darauf verbrachte ich in der kleinen Fonda der Eltern von Carmens Freundin. Der historische Ort lag sehr malerisch und ganz typisch spanisch auf einem Felsen, der aus der Ebene ragte, und hatte etwas von einer Festung. Hohe Mauern, grauer Stein. Auch die Menschen wirkten auf mich eher abweisend.
Carmens Freundin nahm mich mit zu einem Bekannten in das Innere eines alten, fürstlichen Gebäudes. Der junge Mann selbst machte den Eindruck eines verkommenen Sohnes reicher Eltern. Später saßen wir am Rande des Ortes und hatten den Blick weit über die Ebene. Carmens Freundin unterhielt sich mit dem jungen Mann, vielleicht rauchten beide oder zumindest er Haschisch. Ich blieb aus ihrem Gespräch ausgeschlossen. In der Ferne sah man einen breiten Rauchstreifen, der sich über die Ebene schob. Das sei ein Flächenbrand, das gäbe es öfter. Ich versuchte, trotz des Dunkel – es war längst Nacht geworden – mehr zu erkennen, blickte angestrengt in die Ferne, unter dem Rauch sah man ein Glimmen. Ganz langsam stieg Entsetzen in mir auf, Grauen, Angst, dieses große, sich über die Ebene wälzende Feuer... ich nachts im Stoppelfeld... niemand hatte gewußt, wo ich war, niemand hätte nach mir gefragt...
Ich hatte selten Zeit, solche Erinnerungen auszugraben. Der Alltag mit meinen sieben Kindern war einfach zu ausgefüllt. Doch den Tag, an dem ich begann, dieses Buch zu schreiben, hatte ich mit Rückenschmerzen im Bett verbracht. Es war ziemlich schlimm diesmal, Schmerzen eben. Bei den Waschungen zum Gebet kam ich nur mit Mühe an die Füße. Die Bewegungen des Gebets konnte ich nicht genau ausführen, beim Beugen mußte ich in die Knie gehen.
Mein Sohn Mohammed war sechseinhalb. Er saß auf der Fensterbank und war stinkesauer. Gestenreich und vehement beschwerte er sich. Wenn er so in Fahrt war, mußte man sich das Lachen verkneifen. Es sei schrecklich gemein. Und Allah sieht alles, und wir würden schon noch sehen. Und wenn Chadidscha ihm am nächsten Tag wieder keine Mango geben würde, dann würde sie was erleben. Und überhaupt, einen neuen Kuli habe er ja auch nicht gekriegt. Und Chadidscha habe ihn so gemein verprügelt, und gestern auch schon, und er würde nie mehr auf Abudi horchen und auch nicht mehr für uns die Milch bringen. Ibrahim, vier Jahre, meinte ganz unbeschwert: „Dann bring halt ich die Milch!“ Er war gerade vergnügt, plapperte vor sich hin, da war er richtig goldig. Musa war fast unbemerkt zu mir ins Bett geklettert, hatte sich mir an die Brust gelegt und war gleich eingeschlafen. Dabei hatte er noch gar keine Windeln und keinen Schlafanzug an. Das erledigten Chadidscha und Fatima nun mit vereinten Kräften, er protestierte ein bißchen, schlief dann nuckelnd gleich wieder ein.
Am Fenster eine unheimliche Stimme ...huh, huh... ich hätte gedacht, das sei Chadidscha, aber Mohammed wußte gleich Bescheid: „Das ist Abudi, der will mir bloß Angst machen!“ Einen Augenblick später war Abdullah – er war neun – mit einem Hops bei mir auf dem Bett, doch da kriegte er erst mal einen Anranzer : „Du hast ja immer noch die gleiche von Schmutz starrende Hose an! Runter von meinem Bett! Und hast du überhaupt schon gebetet?“ Safia, die brave, schlief schon. Das sollten die anderen jetzt eigentlich auch.
Buchstaben und Bonbons
Gemeinsam mit meinem vierjährigen Sohn Ibrahim lernte ich dazu. Mein Ziel war, ihn dazu zu bewegen, möglichst viel Koran zu lesen und möglichst viel „Schreiben“ zu üben – seine allerersten arabischen Buchstaben - , und dabei möglichst wenig Bonbons als Belohnung einzusetzen. Schließlich machten sie ihm nur die Zähne kaputt. Außerdem ging der Bonbonvorrat, den ich hinter meinen Kleidern ganz oben im Schrank gut verwahrt hielt, gerade bedenklich zur Neige. Sein Ziel war, ganz gleich wie, möglichst viele Bonbons zu ergattern. Einmal waren sie süß, außerdem konnte man damit vor seinen Geschwistern angeben, und schließlich bedeutete jedes Bonbon einen gewissen Sieg über Mamas Knauserigkeit.
Ibrahim hatte so schön geschrieben, da hatte er wirklich eine Belohnung verdient. Ganz begeistert von seinem Fortschritt kruschtelte ich also ein Bonbon hinter den Kleidern hervor. Da strahlte er. Wenn er lachte, schienen sich seine Mundwinkel fast mit den Ohrläppchen zu treffen. Mit dem Bonbon in der Backe sah es noch lustiger aus. Und dann wollte er gleich noch ein Bonbon haben. Daß die Mama so begeistert war von seine Buchstaben und gerade mal so gebefreudig, mußte doch ausgenutzt werden! Ich ließ mich aber nicht rumkriegen. Wenn ich es zu einer Bonbon-Inflation kommen ließ, war das Ziel verfehlt, dann spornte ein lumpiges kleines Bonbon niemanden mehr an, irgendetwas zu tun! Na ja, wenn er am nächsten Morgen schön Koran lesen würde, dann gäbe es noch ein Bonbon, versprach ich ihm schließlich. Damit gab er sich zufrieden.
Natürlich hatte er es am nächsten Morgen nicht vergessen, im Gegensatz zu mir. „Komm, Ummi, wir lesen Koran!“ „Ja, gleich,“ meinte ich erfreut ob so viel Eifers. Dann fiel es mir wieder ein: Ach so, das versprochene Bonbon... Aber nun hatte ich etwas dazugelernt. Daß er gerade so willig war, mußte doch ausgenutzt werden! „Ja, komm her, wir lesen. Und wenn ich dir dann das Bonbon gebe, schreibst du auch schön in dein Heft. Heute ist das `Ba` dran...“ Ohne lang nachzudenken, war er gleich einverstanden, las schön Koran, bekam sein Bonbon. „So, und wo ist jetzt dein Heft?“ Ich war mir nicht sicher, ob er es absichtlich „verschlampert“ hatte – das war eher einer von Abdullahs Tricks.
Nein, nein, wenn Ibrahim es verlegte, dann wohl wirklich eher aus Schusseligkeit, wir fanden das Heft auch gleich. „Also jetzt die `Ba`s, soll ich dir Pünktchen malen oder schreibst du sie ganz alleine?“ „Ganz alleine!“ Einen Augenblick später kam er mit dem Heft an. Die Linien waren noch genauso leer wie vorher. Ob er nicht vielleicht die halbe Seite auslassen könne? „Nein!“, meinte ich so entschieden, daß er nicht weiter versuchte mich umzustimmen. Ob ich ihm vielleicht doch Pünktchen malen sollte? „Ja, doch,“ fand er jetzt. Also malte ich ihm eine Reihe gepünktelter `Ba`s auf die Linie. „Schau mal, ich hab´ sie schön groß gemacht. Und wenn du sie fertig hast, lassen wir eine Linie frei und schreiben auf die nächste Linie, und dann ist die Seite ganz schnell voll, dann reicht´s!“ „Okay!“ Er zog mit Heft und Bleistift ab. Etwas später legte er beides ganz behutsam auf meinen Schreibtisch. Als er merkte, daß ich ihn gesehen hatte, meinte er: „Ach Mama, ich schreibe das später.“ „Also gut“, meinte ich. Er würde es schon noch schreiben.
Frau Brezna
Ich hatte einen neuen Menschen kennengelernt.
Wie sehr mich das aufwühlte, merkte ich an meinen Gebeten, die ich plötzlich nicht mehr ordentlich betete. Nicht daß ich die Gebetszeiten nicht korrekt eingehalten hätte, Gott bewahre. Ich hielt auch artig an den freiwilligen, zusätzlichen Gebeten fest, die ich normalerweise bete, und bemühte mich, in jedem Gebet die gewohnte Menge Koran zu rezitieren, obwohl man da durchaus die Freiheit hat, es kurz zu halten. Und ich hielt an den Bittgebeten fest, die ich mir zusammengestellt hatte, in dem Wissen, daß ich alles, um das ich da bat, dringend brauchte. Als ich mich dann im Abendgebet sogar verhedderte, einen vierten Gebetsabschnitt anhängte, wo keiner mehr hingehörte, mußte ich mir eingestehen, daß etwas nicht stimmte.
Damit daß ich mir das eingestand, platzte eine Haut, die mir zu eng geworden war. Der Islam, Muslim geworden zu sein, bedeutete nicht, daß man angekommen war, nun stehen bleiben konnte, nicht mehr wachsen, sich nicht mehr verändern mußte, im Gegenteil. Islam bedeutete, einen geraden Weg eingeschlagen zu haben und diesen nun vorwärts zu gehen, sich zu verändern, sich zu ändern zum Guten hin.
Aus der aufgeplatzten Haut quoll meine Aufgewühltheit hervor, und ich versuchte nicht länger, es vor Allah zu verbergen, welch unsinniger Versuch. O Allah, das alles kommt von Dir, es ist von Dir bestimmt. Du kennst meine Liebe zum Schreiben, die ich jahrelang voll Mißtrauen gegen mich selbst und vielleicht aus Mangel an Vertrauen in Dich in schwere Eisenketten gelegt hatte, aus denen sie sich aber ganz leise und sanft Stück für Stück herausgezogen hat und so in Briefe und einige Gedichte schlüpfen konnte. O Allah, Du kennst meine Liebe zum Schreiben nicht nur, Du hast sie gemacht. Bitte, laß mich etwas schreiben, das Deine Anerkennung findet und worauf Dein Segen liegt.
Allah ist noch so viel größer.
Der Mensch, den ich kennengelernt hatte, war eine Frau, die schrieb. Sie hieß Irena Brezna. Ich hatte ihr Buch gelesen, eine Freundin hatte es mir aus Deutschland geschickt. Wie lange hatte ich kein deutsches Buch mehr gelesen!
Frau Brezna stammte aus der Slowakei, aber sie schrieb auf Deutsch. Sie schrieb gut. Sie hatte etwas außergewöhnliches getan. Als es zur sowjetischen Invasion in Tschetschenien kam, das russische Heer über kaukasische Dörfer herfiel und wieder einmal ein friedliches muslimisches Volk Opfer von Gewalt und Grausamkeit wurde, flog sie hin. Sie hatte einen Ausweis als Sonderkorrespondentin, aber den schob sie in die Strumpfhose, band sich ein Kopftuch um, weinte an den Kontrollposten, damit ihr akzentbehaftetes Russisch nicht bemerkt würde, und ging mit tschetschenischen Frauen in ein Dorf, das gerade einen Überfall russischer Soldaten erlebt hatte.
Sie lieferte nicht einen Bericht wie andere Journalistinnen, die zwar im allgemeinen Zeiten mädchenhafter Anmut hinter sich haben, aber mit offenen Haaren und sich unter Pullovern abzeichnenden Brüsten Berichte abliefern, die genausogut Männer hätten produzieren können.
Frau Brezna schrieb ein sehr persönliches Buch, das Buch einer Frau. Es war zu einem guten Teil ein Buch über sie selbst. Da beschrieb sie zunächst in einer Fabel voller Bilder, Zwischentönen, wie sie selbst als junges Mädchen von ihrer fliehenden Mutter in die Schweiz gebracht wurde... Russische Panzer hatten die Tschechoslowakei überrollt. Ihr Flug nach Tschetschenien war ihr ein inneres Muß, keine Berufsausübung.
Ihre Begegnung mit den Tschetscheninnen war von Respekt gezeichnet, ja von Liebe. Da war die Bereitschaft, wirklich wahrzunehmen, statt vorgefaßte Bilder wiederzuerkennen. Umarmt hätte ich sie am liebsten für ihre beißende, gekonnte Satire vom TV-Filmer „auf der Jagd nach der Einheitsträne“, der das Leid des tschetschenischen Volkes routinemäßig, gefühl- und taktlos zu einem mitleidheischenden Null-Acht-Fünfzehn-Bericht über Unglück und Armut verarbeitet hatte.
Manchmal war ich erstaunt, erschrak fast ein bißchen, wie bedeutungsvoll für mich war, was mein Mann mir zu geben hatte. In einer kurzen Sure im Koran steht ein Satz, den man so übersetzen kann:
„Wahrlich der Mensch ist verloren außer denen, die den Glauben angenommen haben, richtig handeln, einander ans Herz legen, sich an die Wahrheit zu halten, und einander anhalten, standhaft auszuharren.“
Die richtigen Worte im richtigen Moment aus dem Munde eines anderen Menschen zu hören, erinnert zu werden an das, von dem man weiß, daß es wahr ist, das man nur im Augenblick aus den Augen verloren hatte... Wenn wieder scharfe Konturen bekam, was zu verschwimmen drohte...
Nein, nicht erschrecken über die eigene Bedürftigkeit. Wie sehr man sich doch selbst etwas vormacht, wenn man sie nicht sehen will.
Wie weit bin ich innerlich abhängig von meinem Mann? fragte ich mich. Wir waren über fünfzehn Jahre verheiratet. Abhängig sein – das heißt: in der Luft hängen ohne. Angst davor, nur noch ein halber Mensch zu sein, wenn er nicht mehr da wäre.
Von Allah bin ich abhängig. Davon, daß Er mir im richtigen Moment das richtige zukommen läßt. Sei es durch meinen Mann, sei es anders. Allah stirbt nicht.
Frau Brezna hatte mich sehr beeindruckt. Sie war eine mutige, starke Frau. Und dabei dachte sie über sich selbst nach, sie beobachtete gut und war empfindsam. Sie schrieb so gut. Wie bekam man einen Ausweis als Sonderkorrespondentin? Sie hatte veröffentlicht...
Man darf sich nicht zu sehr beeindrucken lassen. Von nichts und niemandem. Sonst blendet es einen, dann kann man nicht mehr klar sehen.
Ich schaute mir Frau Breznas Fotos an. Dreimal war sie abgebildet, auf den vielen Schwarzweißfotos des Taschenbuches. Jedesmal sah sie wieder ganz anders aus. Sympathisch. Auf dem Buchdeckel stand, daß sie mit ihren zwei Söhnen in Basel lebte. (Wo war der Vater ihrer Jungs?)
Wer Frau Brezna wirklich war, wußte ich nicht. Auch ihr Buch war ja nur ein Bild von ihr. Seit sie es geschrieben hatte, waren fünf oder sechs Jahre vergangen. Ich wollte Frau Brezna gerne kennenlernen. Ich beschloß, ihr einen Brief zu schreiben.
Als ich den Brief dann auch wirklich schrieb, kam ich allerdings schnell ins Stocken. Was konnte ich Frau Brezna über mich selbst schreiben, über den langen, eigentlich recht abenteuerlichen Weg, den mich mein inneres Muß geführt hatte? Und was konnte ich ihr schreiben von meinem doch recht zurückgezogenen Leben als "Nur-" Haus - und Ehefrau sowie Mutter? Ich mußte ihr etwas schreiben über mich selbst, das war klar, aber eigentlich ging es mir um etwas ganz anderes.
Frau Brezna hatte in ihrem Buch von der Reihe der Toten gesprochen, die im Paradies weilen durften. Hatte sie das einfach nur so hingeschrieben, wie sie es von den Tschetscheninnen gehört hatte, dann nicht weiter darüber nachgedacht? Sie hatte geschrieben, daß sie sicher etwas Absurdes gedacht hätte, wäre sie in Tschetschenien auf eine Mine getreten. Gott sei Dank, sie war heil zurückgekommen und hatte so ihr ausgezeichnetes Buch schreiben können, aber fragte sie sich denn nicht, was sie wohl denken würde, wenn ihr Leben sein Ende erreichen würde, vielleicht ganz unspektakulär, aber doch plötzlich?
Gott kam in ihrem Buch nicht vor, und mir ging es vor allem und letztendlich um Ihn. Doch wie konnte ich Frau Brezna das verständlich machen?
Mein Brief fiel ungelenk und holprig aus, ich war gar nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Trotzdem schickte ich ihn ab, war dann aber weder überrascht noch enttäuscht, daß ich nie eine Antwort erhielt. Vielleicht war ja auch mein Brief oder ihr Antwortbrief auf dem langen Postweg zwischen dem Sudan und Basel verloren gegangen.
Ungewöhnlich
Wir waren zu Gast bei einer befreundeten Familie, etwa zehn Frauen saßen in einer Runde, außerdem einige ältere Mädchen und viele Kleinkinder. Ich bemühte mich, dem schnellen, lebhaften Gespräch auf Arabisch zu folgen, was mir wegen des irakischen Dialektes nicht ganz leicht fiel.
Fatima setzte sich neben mich und flüsterte mir ins Ohr. „Mama, mir ist was passiert. Als wir im Schwimmbassin geplanscht haben, ist mir ein Spielzeug ins Ohr geraten. Jetzt höre ich auf dem Ohr nichts mehr, und es tut mir weh.“ „Wie kann denn so was passieren, welches Spielzeug denn?“, war meine erste Reaktion. Ich schaute auf die Uhr und überlegte. Ein Arztbesuch würde Nerven kosten und aller Erfahrung nach unbefriedigend verlaufen. In der Regel wirkte die Diagnose wenig überzeugend, und man bekam routinemäßig eine Flasche Antibiotikum und ein Schmerzmittel verschrieben. Und es war sowieso schon zu spät abends, um überhaupt noch einen Arzt anzutreffen.
Sollte das Trommelfell verletzt sein? Eine schlimme Vorstellung, wenn meine Tochter von nun an nur noch auf einem Ohr hören würde...Keine Macht noch Kraft außer bei Allah. Schlimmen Vorstellungen galt es die Lehren unseres Propheten und die Geschichten aus dem Leben der Menschen, die damals direkt von ihm lernen durften, entgegenzusetzen. Da war die Geschichte von Erwa bin Zubair, einem großen Gelehrten, dem das Bein amputiert werden mußte. Nach der Amputation lobte er Allah und dankte Ihm dafür, daß er ja noch drei gesunde Gliedmaßen übrig hatte...
„Gott sei Dank, du hast ja noch das andere Ohr. Und überleg mal, es gibt Menschen, die ganz taub sind, manche sogar von Geburt an. Wenn man sich das vorstellt! In scha Allah, so Gott will, gehen wir morgen zum Arzt.“
Wieder zuhause saß ich bis spät in die Nacht und schrieb. Als ich schließlich zu Bett gehen wollte, hatte Musa, der dort schon lange friedlich schlummerte, seine Hand an sein Ohr gelegt, ungewöhnlich. So schlief er sonst nie. Mir fiel Fatimas Ohr wieder ein. Ich bat Allah, Er möge es einfach wieder gut werden lassen.
Es begann nach Staub zu riechen. Wir bekamen Staub, so wie man in Deutschland Regen bekommt. Einen Sturm brauchte es dazu gar nicht.
Das war im letzten Drittel der Nacht, als es schon auf den Anbruch der Morgendämmerung zuging. Zu dieser Zeit ist Allah Seiner Schöpfung besonders nahe, wenn man das so ausdrücken kann. Um diese Zeit nimmt Er Bitten bevorzugt an, sozusagen. Diese Dinge sind schwer zu übersetzen – sie stimmen so, wie der Prophet sie auf Arabisch gesagt hat, aber wir können sie nur begrenzt verstehen und nur übersetzen, was wir verstanden haben.
Als wir zum Morgengebet aufstanden, kam Fatima zu mir und meinte glücklich: „Ich kann wieder ganz normal hören, es ist vorbei.“ Wundergeschichten? Alles hat seine Gründe und Zusammenhänge, und wir kennen sie nur zum Teil. Vielleicht war etwas im Ohr angeschwollen gewesen oder leicht entzündet und hatte sich über Nacht erholen können. Das Wunder lag darin, daß ich Gott gebeten hatte, die Bitte sich erfüllt hatte und daß ich wußte, daß das von Gott so bestimmt war.
Beginn der Regenzeit
Es war ganz früh am Morgen, gerade erst war es hell geworden. An den Schatten sah ich, daß die Sonne wohl gerade aufgegangen sein mußte. Ich saß auf einem der blauen Stühle, die meinem Rücken so wohl taten, im Hof vor der Küche, den wir den Frauenhof nannten.
Über mir strömte das Wasser rauschend in die Wassertonnen, die auf dem Dach installiert waren und uns als Wassertanks dienten. Es klang hohl, was bedeutete, daß sie noch fast leer waren. Gott sei Dank hatte ich daran gedacht, die Wasserpumpe gleich einzuschalten. Der Motor lief ruhig und gleichmäßig.
In scha Allah, so Gott wollte, würden wir heute endlich Wäsche waschen können. Normalerweise wuschen wir dreimal die Woche: samstags, montags und mittwochs. Wegen der Stromausfälle hatten wir nun schon seit Mittwoch nicht gewaschen, es war Montag. Der große Wäschekorb war gestopft voll mit schmutziger Wäsche. Die Haushaltshilfe hatte versprochen, pünktlich zu kommen. Ich stülpte den Schlauch über den Wasserhahn am Waschstein und steckte ihn in die Waschmaschine. In der Küche stand der Topf mit der Seifenlauge schon auf dem Feuer.
Alle schliefen noch, erschöpft von der Hitze der vergangenen Tage. Ich würde mich dann um die Mittagszeit hinlegen. „Der Segen liegt für jene, die mir nachfolgen, in den Morgenstunden.“ hatte der Prophet gesagt. Daß Morgenstund Gold im Mund hat, weiß man in Deutschland ja auch.
In der Nacht hatte es geregnet, die jüngeren Kinder hatten da schon geschlafen. Abudi hatte an die Tür des großen Raumes geklopft, den wir „das Büro“ nannten. Gleich ließen wir die Fernsehdiskussion stehen, über die wir uns sowieso nur geärgert hatten, und gingen ins Freie. Mein Mann, die drei großen Kinder und ich begannen Allah zu bitten. Wenn Regen fällt, ist das ein besonders passender Moment dafür. Wie schade, daß die Menschen in Deutschland das nicht wußten, wie viel Gutes entging ihnen da!
Gott bitten - das war, was neu gewesen war, nachdem ich zum Glauben gefunden hatte, daß es Gott überhaupt gibt. Das war nun sechzehn Jahre her. Im Islam dann, etwas später, lernte ich, daß es der Kern, auf Arabisch das Hirn, des Dienstes an Gottes ist, Ihn zu bitten. Gott weiß, was wir uns wünschen, Er weiß, was wir brauchen, doch Er will von uns, daß wir uns bittend an Ihn wenden, an Ihn, Der Seine Gaben so reichlich, großzügig und weise austeilt. Und wenn wir Gott bitten, sollen wir ganz davon überzeugt sein, daß Er unsere Bitten annimmt und erhört. "Wenn meine Diener dich nach Mir fragen, so bin Ich nahe. Ich erhöre die Bitte des Betenden, wenn er Mich bittet. So sollen sie denn auf Mich hören und an Mich glauben, dann werden sie mit Sicherheit rechtgeleitet sein." steht im Koran.
Der Regen war sanft und schön. Ich genoß das Geräusch der Tropfen auf dem Sonnensegel zwischen Eßdiele und Küche. Fatima kam – unpassenderweise – mit Vaters Papierkorb an, um ihn in der Küche vor dem Regen in Sicherheit zu bringen. Er hatte zum Ausleeren draußen gestanden. Ihr Gesicht sah glücklich aus. Sie sagte: „Chadidscha hat mir gesagt, ich soll mich drauf einstellen, daß gleich wieder der Strom weg ist.“ Es gab noch ein paar Kerzen auf dem Küchenfenster, wir legten sie auf den Kühlschrank, um sie gleich bei der Hand zu haben. Leider hatten die Kinder die aufladbaren Lampen kaputtgemacht.
Dann war ich wieder allein, unter dem Sonnensegel. Der Regen und der Wind zausten unseren kleinen Baum, dessen Krone aus dem Männerhof über die Mauer ragte. Die Krone des Baumes sah nun wuschelig aus, weich, ganz anders. – Der Strom fiel nicht aus, es regnete auch nirgends ins Haus hinein. So sanft und freundlich, wie der Regen gekommen war, hatte er auch wieder aufgehört.
- - Ein Blick in meine halbautomatische Waschmaschine: Das Wasser war braun, fast dunkelbraun! Durfte das wahr sein? Keine Macht noch Kraft außer von Allah. Ich bog das Abflußrohr in das Becken des Waschsteins und ließ das Wasser wieder ablaufen. Bismillah, im Namen Allahs, es sollte doch für Ihn sein, sind wir doch nur auf der Welt, um Ihm zu dienen. Er hat das so gemacht, daß Wäsche dreckig wird und man sie dann waschen muß. Ich drehte den Wasserhahn nochmal auf, um die Maschine gleich wieder vollaufen zu lassen. Möglicherweise kam das Wasser inzwischen sauber.
Plötzlich verstummte das gleichmäßige Geräusch der Wasserpumpe und das Rauschen über mir. Was? Ich blickte auf die Uhr in der Küche – sieben Uhr! An beiden vorangegangenen Tagen war der Strom um acht Uhr weggewesen und erst nachmittags um fünf wiedergekommen. Ich hatte fest damit gerechnet, daß wir an diesem Tag Strom haben würden. Oft wechselten sich Tage mit Stromausfall und solche mit Strom miteinander ab. Aber so war das halt im Sudan: Man konnte sich auf nichts verlassen. Man wußte nie im Voraus, wann es Strom geben würde und wann nicht, und das machte die Stromknappheit noch viel anstrengender. Es gab zwar gewisse erfahrungsmäßige Wahrscheinlichkeiten, aber mehr nicht.
Mir schwante Fürchterliches. Im Jahr zuvor um diesselbe Jahreszeit war der Strom so knapp gewesen, wie ich es in den mehreren Jahren, die ich jetzt immerhin Sudanerfahrung hatte, sozusagen, noch nie erlebt hatte. Manchmal hatten wir von 24 Stunden nur drei Stunden Strom gehabt. Abgesehen von Schweiß, Hitze und allgemeiner Klebrigkeit bedeutete es, daß ich Tiefkühltruhe und Kühlschrank nicht wie gewohnt benutzen konnte. So mußte man sehr viel mehr Aufwand treiben mit Einkaufen und Kochen. Wenn das wieder so schlimm werden sollte, konnte ich mir auf jeden Fall das Schreiben gleich abschminken.
Keine Kraft noch Macht außer bei Allah. Für einen Augenblick war ich in Versuchung aufzugeben. Halt noch ein Tag ohne frischgewaschene Wäsche, jeder würde wohl schon irgendetwas finden, das er anziehen könnte, und zur Not konnte man ja auch in schmutzigen Kleidern rumlaufen. Es machte aber einen Unterschied, nein, es war nicht egal. Es wird einen Tag geben, an dem es ganz und gar nicht egal sein wird. „ Und wer auch nur ein Staubkörnchen Gutes getan hat, wird das (am Tag des Jüngsten Gerichtes) sehen, und wer auch nur ein Staubkörnchen Schlechtes getan hat, wird das sehen.“ , steht im Koran.
Die Waschmaschine war zum zweiten Mal vollgelaufen. Das Wasser war nun lediglich gelblich, das ging schon. Ich schloß die Wasserhähne der Wassertonnen auf dem Dach, von denen aus das Wasser in die Leitungen des Hauses floß. Es konnte leicht passieren, daß eines der Kinder das Wasser im Klo nicht wieder zudrehte und dann im Handumdrehen das gespeicherte Wasser alle war. Dann öffnete ich den Wasserhahn am Waschstein, um den Wasserdruck in der öffentlichen Wasserleitung zu prüfen. Gott sei Dank, es kam noch Wasser, wenn auch nicht sehr stark. Vermutlich würde später kein Wasser mehr von außen kommen, dann würde ich das Wasser aus den Tonnen auf dem Dach benutzen müssen. Ich entschloß mich, Sadek zu wecken.
Er hatte wenige Tage zuvor eine kleine Strommaschine gekauft. Ich mußte dringend lernen, mit ihr umzugehen. Gut, daß ich am Tag zuvor schon erwähnt hatte, wie dringend wir waschen mußten. Er stand sofort auf, warf das Strommaschinchen an und schloß die Waschmaschine daran an. Wir würden noch mehr Benzin benötigen, um alles zu waschen, aber die Waschmaschine drehte sich schon mal mit dem kleinen Rest an Benzin, der noch da war. Es galt keine Zeit zu verlieren, um das Wasser von außen zu nutzen und den jetzt bereitgestellten Strom. Das Strommaschinchen lief. Schnell sortierte ich die Wäsche im Wäschekorb aus, um nur das Wichtigste zu waschen. „Die beste aller Angelegenheiten ist die, die in der Mitte liegt“, hat der Prophet gesagt. Auf Deutsch ist das der goldene Mittelweg. Alles waschen zu wollen, wäre übertrieben gewesen.
Das Schöne bei einer halbautomatischen Waschmaschine ist, daß man direkt in den Waschvorgang eingreifen kann. Sie ist von oben offen, die Wäsche dreht sich einmal rechts herum und einmal links herum. Ich stellte mich neben die Waschmaschine. War das vernünftig? Womöglich würden meine Rückenschmerzen wieder schlimm werden und ich würde bereuen, daß ich mich nicht entschließen konnte, Chadidscha zu wecken und um Hilfe zu bitten.
Jedesmal wenn die Waschmaschine ihre Drehrichtung änderte, gab es eine kurze Pause. Die nutzte ich, um die Kleidungsstücke je nach Verschmutzungsgrad – zuerst die weniger verschmutzten – herauszuziehen. Ich schaute sie mir an. Was mir sauber erschien, wrang ich aus, das sollte die Haushaltshilfe dann von Hand ausspülen.
Die Haushaltshilfe kam nicht pünktlich, sondern um neun. Ich sagte nichts, sie hatte einen weiten Weg, und die öffentlichen Verkehrsmittel waren nicht zuverlässig und anstrengend. Auch krempelte sie sofort die Ärmel hoch und nahm mir aus der Hand, was noch von der Wäsche übrig geblieben war. Es war nicht mehr viel, und wir konnten mit dem restlichen Benzin tatsächlich noch die Wassertonnen auf dem Dach vollpumpen, nachdem die Waschmaschine nicht mehr gebraucht wurde.
Beim Frühstück hielt ich meinen Kindern eine Ansprache. „Hört mal, jetzt fängt die Regenzeit an.“ „Toll!“, meinte Ibrahim mit seinem goldigen Stimmchen. „Regnet es jetzt gleich?“ „Allahu aalem, das weiß Allah am besten. Ich glaube nicht, daß es jetzt gleich regnet, aber möglich ist es natürlich. Jedenfalls, Kinder, wir müssen jetzt besonders gut Ordnung halten. Ihr wißt ja, wie das ist: Oft kommt zuerst ein Staubsturm und dann der Regen, und alles, was rumliegt auf dem Boden, ist dann ganz schnell voll Matsch und dreckig. Und dann gibt es vielleicht keinen Strom oder kein Wasser, und wir sitzen im Dunkeln im Dreck und können wenig machen, und alles ist eklig. Also, ihr dürft keine Kleider rumliegen lassen, und auch die Schuhe kommen am besten immer in den Schrank.“ Ich sah ihnen an, wie sie gute Vorsätze faßten. Natürlich würden sie sie sofort wieder vergessen, und ich würde sie ständig daran erinnern müssen. Das nahm ich mir nun meinerseits vor. Eigentlich war die Regenzeit vielleicht ein ganz gutes Training, mehr Ordnung zu halten.
Um ein Uhr war plötzlich der Strom wieder da. „Allahu akbar!“, riefen die Kinder, das machte ihnen Spaß. Und der Tag war nicht ganz so heiß wie die Tage zuvor. Die restliche Wäsche im Wäschekorb konnten wir dann auch gleich wegwaschen.
Es folgten mehrere Tage ohne Stromausfall, ohne Staub und ohne Regen.
Blick in den Himmel über meinem Hof
Der Himmel über meinem Hof war mit wunderschönen Wölkchen geschmückt. Er war hellblau und sehr hoch. Diese Weite. Der Himmel war so groß. Wie klein waren da all meine kleinen Weisheiten, mein bißchen Wissen, das ich so dringend brauchte, um mein kleines Leben auf die Reihe zu kriegen.
Was war über den Wolken, hinter dem Himmel, wie weit war das Weltall, wo war es zu Ende? Andere Sonnensysteme, schwarze Löcher, alles strebt auseinander und wird irgendwann wieder in sich zusammenfallen. Sagt die Wissenschaft. „Und den Himmel haben Wir gebaut durch Kraft, und wahrlich, Wir dehnen aus.“ steht im Koran. Und: „Alles vergeht außer Seinem Antlitz. Sein ist das Urteil, und zu Ihm werdet ihr einst zurückgebracht.“
Einmal wird das alles hinter uns liegen, und es wird uns vorkommen, als hätten wir nur einen Tag verweilt, oder sogar nur den Bruchteil eines Tages. Ob ich dann wirklich zu denen gehören würde, die das Paradies betreten dürfen, die es verdient haben? Womit denn? Da sind meine Gebete, die ich bete, so gut ich kann. Wieviel sie wohl wert sind bei Allah? Das Gebet ist das erste, wonach wir gefragt werden am Tag des Gerichts. Sind sie in Ordnung, dann wird alles gut.
Da ist mein Bemühen um den Koran. Je mehr ich auswendiggelernt habe, je öfter ich ihn gelesen habe, je mehr ich mich mit Erklärungen befaßt habe, desto mehr erkenne ich, wie gewaltig er ist, und daß ich ihn niemals werde erfassen können. Und da waren noch andere Offenbarungsschriften – der Psalter, den David erhalten hat, Moses´ Thora, Jesus´ Evangel. Andere Sprachen, was alles mochte in ihnen geschrieben stehen... „Sag: Wenn das Meer Tinte wäre für die Worte meines Herrn, bestimmt würde das Meer erschöpft sein, bevor die Worte meines Herrn erschöpft wären...“
Dieses riesige Weltall, das aber doch endlich ist und einst ein Ende nehmen wird... Zu meiner Überraschung fanden wir es in Chadidschas Was-ist-was-Sachbuch „Die Zeit“:
„Die Zeit ...hat wahrscheinlich Anfang und Ende. Sie kam mit dem Weltall und wird mit diesem wieder verschwingen.“
Allah hat es angekündigt: „Wir werden ihnen unsere Zeichen zeigen an den Horizonten und in ihnen selbst, bis ihnen klar wird, daß es die Wahrheit ist.“ Das wußten sie jetzt also schon.
Mein Blick glitt ab in unseren Hof. So schön war er gar nicht, mehr praktisch. Da standen meine Waschmaschine und die Wassertonne, hingen die Sonnensegel, ein bißchen schief. „Ich liebe ihn aber, meinen Hof," dachte ich, "das heißt, ich liebe es, hier zu sitzen.“ Das diesseitige Leben hatte mich wieder. „Es ist nichts als eine Gabe von Gott, die genutzt sein will“, dachte ich noch. Es galt diese Zeit zu nutzen, die uns gegeben war und die ihr Ende nehmen würde...
Im Abendgebet kamen mir die Tränen. Ich spürte die Weite, die der Blick in den Himmel in meiner Brust hinterlassen hatte. Diese Tränen waren keine Rührseligkeit. Männer, die die halbe Welt erobert, dann weise regiert haben, haben sie vor mir geweint. Sie kämpften am Tage, zu Pferde, mit dem Säbel in der Hand, und verbrachten die Nächte im Gebet stehend, als wären sie Mönche... und weinten, bis ihre Bärte naß waren von den Tränen. Diese Tränen sind Wissen um Allah im Herzen. Da schmilzt etwas, Härte, die all jene Sünden hinterlassen haben , die bei Allah festgeschrieben sind und die wir vergessen haben...
Blick ins Internet
Ein kurzer Blick ins Internet – endlich wollte ich die neue Möglichkeit nutzen und ein wenig in deutschen Zeitungen blättern.
Eine Welle von Feindseligkeit schlug mir entgegen. Stimmungsmache gegen solche, die es gewagt hatten, an Israel Kritik zu üben, Stimmungsmache gegen Palästina und die Palästinenser, gegen die „Moslems“. Wir befanden uns im Krieg. „Wer sich nicht auf unsere Seite stellt, ist unser Feind!“ hatte es aus Amerika getönt. Stimmungsmache an sich schien mir gar nicht so verabscheuungswürdig. Sie war eine Waffe der Kriegsführung. Im arabischen Fernsehen wurde sie auch nach Kräften betrieben, natürlich, bloß andersrum.
Eselmist
Die Straße vor unserem Haus war ungeteert und bestand aus Sand. Jeden Morgen brachte uns der Milchmann per Eselkarren frische Milch ins Haus. Chadidscha holte das Geld aus dem Büro, Abudi die Blechkanne aus der Küche.
Ich hatte ihnen mehrmals gesagt, daß sie an diesem Tag die doppelte Menge kaufen sollten. „Habt ihr drangedacht?“ „Schon,“ meinte Abudi, unterdrückte ein Grinsen, es zuckte um seine Mundwinkel und um die Augen. „Was ist los?“ „Mama, der Esel steht doch vor unserem Hoftor, wenn wir die Milch kaufen... und manchmal muß er doch Kackerchen machen, oder? Also, er hat genau vor unserer Tür ein Riesenkackerchen gemacht... es ist ziemlich flüssig...“ Die jüngeren Kinder, die ihn umrahmten, kicherten. Abudi konnte sich auch nicht mehr halten und mußte lachen. „Na ja...“ Ich mußte auch lachen.
„Das heißt, wenn jetzt jemand zu uns kommt, tritt er rein, macht sich die Schuhe schmutzig und uns den ganzen Boden.- Also, flüssig ist es? Dann kann man es wohl schlecht wegmachen... ach, weißt du, kipp einfach einen Eimer Sand drüber!“
Machte er dann auch. Er hätte den Eselmist auch einfach auf sich beruhen und liegen lassen können...
„Besitz und Kinder verschönern das diesseitige Leben...“ heißt es im Koran. Und geht weiter: „... Aber bleiben wird rechtschaffenes Handeln. Es wird von deinem Herrn hoch belohnt und läßt Gutes erhoffen."
Wenn ihnen ein Unglück zustößt
„Und sicher werden wir euch Prüfungen aussetzen mit etwas Furcht und Hunger und mit Verlust an Besitz sowie Rückgang der Bevölkerung und der Ernten. Doch künde den geduldig Ausharrenden Gutes an, die wenn ihnen ein Unglück zustößt, sagen: 'Wahrlich, wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück.' Auf diesen liegen Segnungen von ihrem Herrn und Barmherzigkeit, und sie sind die Rechtgeleiteten.“ So steht es in zwei Versen im Koran.
Der Koran besteht aus insgesamt 6236 Versen, und, wie soll ich sagen, ist ungeheuer dicht, unglaublich dicht, da ist kein Wort zu viel, Gott bewahre, natürlich nicht, und jeder Vers, jedes Wort, jeder Buchstabe hat eine Tiefe, die mindestens so unergründlich ist wie der Ozean. "Und sie begreifen von Seinem Wissen nur so viel, wie Er will," steht an einer Stelle. Auch wenn wir den Koran mit gläubigem Herzen lesen, bereit, anzunehmen was da steht, nicht mit den Abers hinter dem Rücken, sogar wenn wir ihn ganz auswendiglernen, Buchstaben für Buchstaben - wir werden ihn nie erfassen können. Und dann gilt es noch, das was wir begriffen, verstanden haben, präsent zu halten, daran zu denken, denn wir wollen es doch in unserem Leben umsetzen.
Die Natur des Menschen ist es, zu vergessen. Deshalb muß er immer wieder erinnert werden - daran, wo er herkommt, wer er eigentlich ist, und daran, was Gott von ihm will und was Er ihm versprochen hat. Diese Erinnerung ist uns der Koran. Deshalb haben wir ihn nie ausgelesen und lesen ihn immer wieder und wieder und lesen ihn immer noch. -
Noch eine knappe Stunde bis zum Mittagsgebet, höchste Zeit, mich ein wenig hinzulegen. Auch spürte ich die Müdigkeit. Kaum hatte ich mich ausgestreckt: „Rumms!“ knallte eine Tür am anderen Ende des Hauses. Und gleich nochmal: „Rumms!“ Unsere Türen waren aus Eisen und Glas, wohl weil sich Holz bei der Hitze schnell verzogen hätte. Das bedeutete, sie machten ordentlich Krach, und außerdem konnten die Glasscheiben zerbrechen... Und schon wieder: „Rumms! Rumms! “ – „Kinder!“, ließ ich einen Schreier los. Ich wollte schlafen.
Nur noch eine Dreiviertelstunde zum Gebet – und ich brauchte meinen Schlaf doch auch!
Nach einer kurzen Ruhepause ging es wieder los. „Rumms!“ Und ein ganz besonders lauter Knaller : „Rummms!“ Es half nichts. Ich stand auf und ging in Richtung Büro. Kein Kind weit und breit. Ich hatte keine Lust, sie erst zu suchen, und klemmte einen Plastikbaustein zwischen Tür und Türrahmen von Abudis Zimmertür. Hamudi tauchte auf. Vermutlich hatten ihn die Großen geschickt, um mal zu schauen, ob die Mama noch um die Wege war, oder ob man weiterspielen konnte. Ich schärfte ihm ein: „Keiner nimmt den Plastikstein weg! Keiner schmeißt mehr mit den Türen!!“ Dann ging ich zurück in mein Zimmer, streckte meine Knochen aus, ah, welche Wohltat, die feste Matratze unter meinem Rücken zu spüren.
Ich schlief schon halb, da machte es wieder: „Rumms!“ Danach klangen die begleitenden Geräusche , die Stimmen der Kinder, irgendwie verändert. „Mama!“ „Aha!“, dachte ich. Und: „Hoffentlich hat sich niemand mit einer Glasscheibe verletzt.“
Abudi kauerte in der Diele vor seinem Zimmer wie ein Frosch auf dem Boden und hielt sich den Kopf. Neben ihm, auf dem Boden, zahlreiche dicke Tropfen frischen Blutes... Zuerst dachte ich: „Vielleicht hat er bloß Nasenbluten.“
Als Chadidscha noch klein war, sich ihren Finger in der Waschmaschinentür eingeklemmt hatte und ich sie zum ersten Mal bluten sah, wäre ich fast umgekippt. Inzwischen war ich einigermaßen abgehärtet.
Unsere Kinder waren immer voller Schrammen, Verbandszeug und Wundsalbe lagen bereit. Wir desinfizierten eifrig, bei dem Klima konnte sich eine Wunde leicht entzünden.
„Was ist denn los?“ fragte ich und begann zu schimpfen, was mir aber im gleichen Augenblick auch schon leid tat. Was hatten sie denn auch so wild gespielt. Der Plastikbaustein klemmte übrigens noch, es war die gegenüberliegende Tür gewesen, durch die sie mit Vollgas durchbretterten. Weil Abudi der flüchtende Bösewicht war und Fatima ihn als Polizist verfolgte...
Abudi hatte eine Platzwunde über dem Ohr, nicht schlecht, Herr Specht, zwei bis drei Zentimeter lang. In Deutschland würde man das bestimmt nähen.
Hier würden sie einen im Krankenhaus möglicherweise auslachen und wieder nach Hause schicken. „Chadidscha, Watte!“ Ich beschloß, lieber meinen Mann anzurufen. Sein Geschäft war ganz in der Nähe. Er kam sofort und versorgte die Wunde. Er konnte so was gut.
Außer der Platzwunde hatte Abudi noch eine dicke Beule über dem anderen Ohr, und das Schienbein hatte er sich auch angeschlagen. Weh tat das schon. Sein Gesicht sah verändert aus, magerer, schmaler, ein bißchen spitz. Er jammerte überhaupt nicht, von Anfang an war er einfach still gewesen.
Ich faßte ihn an den Schultern, da war Gott sei Dank noch alles ganz, drückte ihn kurz ein bißchen.
Nun, der imposante Kopfverband, den ihm Vater verpaßt hatte, war nicht schlecht. Außerdem in Vaters Büro ausruhen zu dürfen, das Essen speziell für sich auf einem Tablett serviert zu bekommen... Abends brachte ihm mein Mann sogar teure Fruchtsäfte mit. Sollte er ruhig ein bißchen Aufmerksamkeit extra kriegen, das tat ihm vielleicht mal ganz gut. Großzügig gab er Hamudi von seinen Fruchtsäften ab.
Ob es wohl eine große Narbe geben würde? Das wäre nicht so schlimm gewesen, an der Stelle waren ja Haare drüber. Schade, nur. Ich hatte nicht gesagt: „Wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück.“ Wenn es auch kein großes Unglück war, das uns da zugestoßen war. Es wäre eine Gelegenheit gewesen. Für mich. Mir Segnungen von meinem Herrn und Barmherzigkeit zu verdienen, zu den Rechtgeleiteten zu gehören. Hätte ich gerne gehabt. Schade. Vielleicht nächstes Mal? Falls es ein nächstes Mal geben würde. Man wußte ja nicht, wie lange man noch leben würde.
„Wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück.“
Eine Frau ist eine Frau.
Eine Frau ist eine Frau. Hosen, kurze Haare und Karriere ändern das auch nicht. Wollen wir einmal beiseite lassen, daß es einer Frau passieren könnte, vergewaltigt zu werden und sie das auch immer weiß: Selbst wenn sie auf Kinderkriegen, Stillen, Muttersein verzichtet, in Berufsleben und Öffentlichkeit ihren Mann steht – was sie gut kann, in einer Welt, in der körperliche Kraft keine Rolle mehr spielt, es normal ist, beruflichen Erfolg über die Familie zu stellen, Empfängnisverhütung zum guten Ton gehört - , kreisen doch in ihrem Körper die Hormone, die sie, manipuliert durch die Pille oder nicht, dreißig Jahre ihres Lebens lang, oder länger, allmonatlich ihre Regel bekommen lassen, und steht in der DNS jeder einzelnen Zelle ihres Körpers geschrieben: weiblich.
„Und das Männliche ist nicht wie das Weibliche“, steht im Koran. Und: „...Mann oder Frau, die einen von euch sind doch von den anderen...“
Ich war überrascht und erschrocken. Tränen waren mir in die Augen getreten, ein Schluchzer hatte sich meiner Brust entrungen. Also doch wieder: Ich konnte nicht mehr. Ich hatte gedacht, das läge hinter mir.
Mein Versuch, aus Gebet und Koran Kraft zu schöpfen, war fehlgeschlagen, irgendwie ging es nicht mehr weiter, meine Bemühung war krampfhaft geworden. Der ganze Schwung war weg. Ich mußte es mir eingestehen. Im Grunde hatte ich mich ja selber gequält, wie ich in den letzten Tagen immer nörgeliger und liebloser mit den Kindern umgegangen war. Sogar mit Chadidscha war ich aneinandergeraten. Groll gegen meinen Mann stieg in mir auf. Warum vernachlässigte er uns so?! Kein anerkennendes Wort, er hatte mich nicht einmal angeschaut, als ich ihm und seinem Gast am Mittag... Stop.
Ich war seit nunmehr fünfzehn Jahren verheiratet. Daß ich aufpassen mußte, wenn das so losging, hatte ich irgendwann begriffen.
Da war das Wort des Propheten, daß die Mehrheit der Bewohner der Hölle Frauen sind. O wie ungern hörte ich das, vorbelastet mit der tiefsitzenden Angst der modernen Frau, mein Frausein könnte bedeuten, daß ich ein Mensch zweiter Klasse sei. Daß Kleriker einst diskutierten, ob die Frau überhaupt eine Seele habe, hat tiefe Spuren hinterlassen... Und so war ich lange nicht aufnahmefähig für die Fortsetzung des Wortes des Propheten. Er wurde nämlich gefragt, wieso das denn so sei. Und antwortete: „Sie sind undankbar gegen den, der sie ernährt. Da bist du die ganze Zeit gut zu einer von ihnen, und wenn sie dann einmal etwas an dir auszusetzen findet, sagt sie: Du warst noch nie gut zu mir.“
Mein Mann hatte seit Beginn unserer Ehe viel Geduld mit mir. Er war liebenswert zu mir und behandelte mich voll Respekt und Achtung. Nie wäre er auf die Idee gekommen, mir vorzuhalten, daß er mich ja ernährte. Daß es das Recht der Frau ist, ernährt zu werden, steht im Islam fest, wie feststeht, daß der Mann die Verantwortung und die Führung hat.
Mein Mann ernährte mittlererweile neun Personen. Er war selbständig. Je nach der Lage im Geschäft hatte er manchmal schon seinen Stress. Meine Rolle war dann, trotz seiner Hektik möglichst Ruhe zu bewahren, zu beweisen, daß es doch noch ein frischgewaschenes Unterhemd gab, wenn es auch in die hinterste Ecke des Kleiderschrankes gerutscht war, aus der ich es ihm herausfischte, und wenig später lächelnd schnell zur Seite zu springen, wenn er im Volldampf durch die Tür sprintete, fragte „Brauchst du etwas?“ und auch schon im Auto saß, bevor mir eine Antwort über die Lippen gekommen wäre.
Nun war es abends. Mein Mann stand in der Tür meines Zimmers, er mußte nochmal weg. „Brauchst du was?“ Er erschrak, als er mein Gesicht sah, die Tränen. „Wann bringst du mich endlich zu Um Mustafa, das ist doch im Auto ein Katzensprung.“ „Bitte, ich muß jetzt weg. Hab´ bloß noch heute Geduld, ja?“
Als er zurückkam, brachte er eine Schachtel teuren Gebäcks mit. Die stellte ich den Kindern hin, rührte selbst nichts an und ging mein Nachtgebet beten. So einfach ließ ich mich nicht abspeisen. Nach dem Gebet beschloß ich, einen Großangriff zu starten. Da fühlte ich mich gleich viel besser.
Ich ging ins Büro und machte ein böses Gesicht. Mein Mann hatte schon auf mich gewartet. Und auf das, was nun kommen würde... „Also, was gibt´s?“, fragte er. Dabei wußte er es wohl. Auch er war seit fünfzehn Jahren verheiratet. „Der beste von euch ist der, der am besten ist zu seiner Familie.“, hat der Prophet gesagt. Ich brauchte meinem Mann nicht vorzuhalten, daß er die Nähnadeln, deren Bedarf ich am Vortag zwischen Tür und Angel noch anzumelden geschafft hatte, vergessen hatte, und daß...
Als wir jungverheiratet waren, war er fassungslos vor dergleichen Vorhaltungen gestanden – wie konnte so etwas der Grund sein, daß man in Tränen ausbrach? Irgendwann hatte er dann begriffen, daß eine Frau Aufmerksamkeit und Zuwendung von ihrem Mann braucht, und konnte im Nachhinein schon erkennen, wenn es daran gefehlt hatte. Der Prophet hatte den Männern die Frauen ans Herz gelegt und dabei gesagt: "Die Frau ist aus einer Rippe geschaffen, und du kannst sie unmöglich geradebiegen. Du kannst nur dann Nutzen von ihr haben, wenn du sie gebogen läßt." Das hatte ich, Gott sei Dank, von Anfang an nicht als Abwertung empfunden. Eine Rippe ist schließlich etwas sehr Wichtiges und Wertvolles: Sie bewahrt und beschützt das Herz! Und war dieses Wort des Propheten denn etwas anderes als eine Botschaft an die Männer: Laßt den Frauen ihre Weiblichkeit, nehmt sie so, wie sie sind! Denn wenn ihr von den Frauen männliche Rationalität verlangt, geht etwas sehr Kostbares verloren.
„Also, was gibt´s?“, hatte mein Mann gefragt. Ich antwortete: „Du hast uns seit ungefähr vier Monaten versprochen, daß wir an den Nil fahren.“ „Och!“, stöhnte er, „da ist es doch heiß! Du weißt ja gar nicht, wie heiß es da ist!“ Ich meinte treffsicher: „Wenn wir gleich nach dem Morgengebet losfahren, ist es noch schön frisch.“ „Hm.“, meinte er. Er wußte, daß ein Opfer fällig war. Tatsächlich, er war bereit, auf sein freitagvormittägliches Ausschlafen zu verzichten und mit uns frühmorgens zum Nil zu fahren!
Es paßte gut, alle Kinder waren früh eingeschlafen. „Da brauchen wir noch Proviant. Und Benzin.“ Daran hatte ich vor Freude gar nicht so schnell gedacht. Er griff nach dem Autoschlüssel. Nur in der Tür kam er noch kurz ins Schwanken... „So früh morgens gibt es wahrscheinlich kein Benzin... oder vielleicht doch?“ (...und wenn man es drauf ankommen ließe und es dann keines gäbe, wäre das ein guter Grund, doch zu hause zu bleiben, sich wieder ins Bett zu legen und doch noch auszuschlafen...) „Komm bloß nicht ohne Benzin nach hause!“, meinte ich schnell und tat ganz grimmig. Dann brachte er reichlich leckere Sachen mit, von Würstchen über Saft bis hin zu süßen Teilchen, und sagte: „Mach, daß du ins Bett kommst, daß du auch genug Schlaf kriegst!“
Es wurde ein herrlicher Ausflug, der allen gut tat. Meinem Mann auch.
Durststrecke
oder: Stumpf wie ein Kartoffelsack
Durststrecke. Ich las Koran, aber ich empfand nichts dabei. Das ist schlimm, wenn man Koran liest und dabei nichts empfindet. Das ist doch Gottes Wort, Seine letzte Offenbarung an die Menschheit, alles was hier steht, ist wahr. Und man muß sich fürchten, wenn von der Strafe Allahs die Rede ist, die ewig sein wird und unabwendlich, und freudig hoffen, wenn das Paradies genannt wird, das so unvorstellbar schön ist, daß es sich bei allem, wie Gott es uns beschreibt, kein Mensch jemals vorstellen kann. Aber mein Herz war so stumpf wie ein Kartoffelsack.
Daß Gott nahe ist, weiß ich und bin mir da ganz sicher. Es steht ja im Koran. Aber ich – ich war irgendwie weit weg, hatte mich entfernt. Da hatte sich etwas zwischen mich geschoben und Allah, Sünden, die ich längst vergessen, vielleicht kaum wahrgenommen hatte, doch bei Gott waren sie aufgeschrieben. Ich habe doch eigentlich nichts Böses gemacht, dachte ich. Der Mensch ist ziemlich gut im Verdrängen, vor allem der eigenen Fehler.
Ich sehnte mich nach dem Koran, danach, ihn mit dem Herzen hören zu dürfen. Es blieb mir verwehrt. Allah verteilt in Seiner Weisheit. Mühsam schlug ich mich durch die Sure „Hud“, die ich anderthalb Jahre zuvor auswendiggelernt hatte, wiederholte jeden Tag eine Seite, manchmal zwei. Doch, etwas von der Schönheit der Worte durfte ich doch fühlen, ein bißchen gewannen die Propheten, von denen berichtet wird, an Gestalt. Aber war sie nicht bedrückend, die sich wiederholende Geschichte der Glaubensverweigerung?
Da hatte Gott in einem Volk nach dem anderen einen der ihren zum Propheten berufen. Er rief die Menschen auf, sich niemandem anderen als Gott zu unterwerfen, allen Irrglauben aufzugeben, kein Unrecht zu tun und darauf zu vertrauen, daß Gott sie versorgen würde. Der Prophet wollte für sein Volk nur Gutes und erwartete sich von ihnen keine Gegenleistung für seine Bemühungen. Doch die meisten Menschen wollten von dieser Botschaft nichts wissen sondern lieber an dem festhalten, was ihnen vertraut war, egal, ob es falsch war. Sie erklärten den Propheten zum Spinner und Lügner und wurden agressiv gegen ihn und die wenigen, die sich ihm anschlossen. Wenn auch jedes Volk seine eigene Geschichte hatte, im Prinzip war es immer das gleiche.
Mir wurde bewußt – selbst wenn es mir gelingen sollte, In Gottes Sinne von Seinem letzten Propheten zu berichten, der an die gesamte Menschheit gesandt war in einer Zeit, in der die Botschaft die ganze Welt erreichen konnte - selbst wenn es mir gelingen sollte, die Menschen meiner Sprache zum Glauben an Ihn und zum Dienst an Ihm aufzurufen, mit dem was ich schrieb: Ich würde ausgelacht werden, sie würden sich über mich lustig machen, meine Worte ins Lächerliche ziehen und mich für verrückt erklären.
Ich mußte aufhören, mir selbst etwas vorzumachen. Ich schaute genau hin und wurde mir bewußt: Beim Lesen im Koran – nicht beim Wiederholen des Auswendiggelernten – war ich noch fast an der gleichen Stelle wie vor mehr als einer Woche! Gut, ich hatte mich vor mir selbst entschuldigt und gesagt: Diese letzten Wochen der Schulferien will ich nützen, um die Kinder Koran zu unterrichten, da stelle ich sogar mein eigenes Lesen zurück. Natürlich, die Zeit war immer knapp. Aber ich hatte die Haushaltshilfe, die großen Mädchen halfen mit – warum konnte ich nicht jeden Tag einen der dreißig Koranabschnitte lesen wir früher? Und wenn ich mir das Koranlernen mit den Kindern ehrlich betrachtete: Es war zu einer lustlosen Pflichtübung geworden. O Gott! Was wir in den Händen halten, ist doch Dein Wort! Ich erschrak vor mir selbst.
Mehr als zehn Jahre zuvor hatte ich in einer Schule für afghanische Waisenmädchen in Nordpakistan erlebt, wie dort Koran unterrichtet wurde und war entsetzt. Wer es nicht konnte, bekam Tatzen. „Darf man den Koran denn mit Schlagen unterrichten?“, empörte ich mich. Ich liebte die afghanischen Mädchen so sehr, wie sie in der Frauenmoschee saßen, nach dem Gebet, in kleinen Grüppchen oder zu zweit, sich gegenseitig Koran abhörten. Sie liebten mich auch, sehr, obwohl ich ihnen nicht viel genutzt habe. Ich fungierte als Arabischlehrerin für die Erstklässler, sollte ihnen die arabische Schrift beibringen. Bloß, sie lernten nichts bei mir, weil ich keine Tatzen verteilte. Oder nur so sanfte, daß sie heimlich über mich lachten, wie ich dann später begriff. Doch sie liebten mich, und ich liebte sie. Und sie liebten die anderen Lehrerinnen, die die Tatzen austeilten, die richtigen Tatzen, nicht die sanften, auch sehr.
Wirklich wahr?
Wie wahr ist unsere Wahrheit?
Als kleines Mädchen war für mich unumstößlich wahr, was mein Vater sagte. Mein Vertrauen auf ihn war endlos. Einmal waren wir nachts unterwegs auf einsamer Strecke und hatten eine Autopanne. Ich spürte, daß meine Mutter Angst hatte und sagte zu ihr: „Hab keine Angst, Mama, der Papa ist doch da.“
Bei uns zu hause gab es Nikolaus und Christkindle, und es wurde ganz stilvoll gefeiert. Aber keiner erwartete, daß wir, mein jüngerer Bruder und ich, das wirklich glauben sollten. Es war einfach nur schön, Familientradition. Was mir mein Vater erklärte, und er erklärte mir seine Ansichten gern, und ich hörte gern zu, war vielmehr: Den lieben Gott, den gibt´s gar nicht, das haben die sich bloß ausgedacht, damit die Leute Angst haben und schön brav sind.
Als ich dreizehn Jahre alt war, starb mein Mutter ganz plötzlich einen tragischen Tod. Sie hatte Selbstmord begangen. Alle waren geschockt. Ich stellte fest, daß die Erwachsenen sehr wenig wußten. Keiner wußte etwas Gescheites zu sagen. Das beste war noch das Wort des Pfarrers bei der Beerdigung, daß wir aus Erde geschaffen sind und wieder zu Erde werden. Das stimmte wenigstens.
Später erlebte ich, daß manchmal Sachen wahr waren, es aber unmöglich war, sie anderen glaubhaft mitzuteilen.
Auf meinem Schreibtisch lag ein kleines Buch mit Hadithen, Aussprüchen des Propheten. Mein Mann hatte es mir mitgebracht und so im Vorbeigehen auf den Tisch gelegt, wie das seine Art war. Und ich hatte es lange einfach liegen lassen, wie das so meine Art war, war ich doch hochbeschäftigt mit Kindern, Küche und meinem Koranprogramm.
Ich liebte den Koran, da fühlte ich mich sicher. Daß da jeder Buchstabe an seinem Platz war, hatte ich begriffen, als ich den Koran auf Arabisch zu entziffern begann. Buchstabe um Buchstabe entzifferte ich ihn, las Vers um Vers erst auf Arabisch, dann in deutscher Übersetzung, damals in Granada, als wir frischverheiratet waren. Mein Mann hielt sich zurück, sagte nichts, wenn ich vergessen hatte, seine Kleider zu waschen, und ließ mich einfach machen. Er hatte sich eine Frau gewünscht, die dazulernen wollte, und als er mich nach der Eheschließung in seine Wohnung führte, die nun unsere sein würde und die er liebevoll hergerichtet hatte, stand da auch ein große Tafel, Kreide lag bereit. Aber als ich ihn mit komplizierten Fragen nach Grammatik und Phonetik löcherte und eine wissenschaftliche Antwort erwartete, begriff er, daß ich ihm keine gelehrige Schülerin sein würde und akzeptierte das einfach. Er tat so, als beachte er nicht groß, daß ich die kürzeren Suren auf Din-A-4-Blättern in die Küche hängte, um sie auswendig zu lernen, aber als ich einmal etwas falsch abgeschrieben hatte, machte er mich so ganz nebenbei darauf aufmerksam.
Etwas erstaunt sah er zu, wenn ich frühmorgens nach dem Gebet mein Päckchen Karteikarten mit arabischen Vokabeln zückte. Später dann dekorierte ich unser Schlafzimmer mit riesigen Plakaten, auf denen ich das beieindruckend systematisch funktonierende arabische Verbensystem aufgeschrieben hatte. Auch davon ließ er sich nicht beeinträchtigen. Er hatte mir eine Kassettensammlung geschenkt, in der jeder Koranvers erst auf Arabisch rezitiert, dann in englischer Übersetzung gesprochen wurde. Die hörte ich mir beim Tellerwaschen an.
Die Beschäftigung mit dem Koran war es, die mich damals durchhalten ließ. Mein Mann und ich waren uns schrecklich fremd, hatten einfach einen zu unterschiedlichen Hintergrund. Daß wir uns auf Spanisch und Englisch verständigen mußten, was weder seine noch meine Muttersprache war, machte es auch nicht leichter. Unter den muslimischen Frauen in Granada, zum größeren Teil junge spanische Frauen, die konvertiert waren, und einige junge Marokkanerinnen, fühlte ich mich fremd. So sehr ich mich nach einem einfachen Leben gesehnt hatte - daß wir am Anfang nicht mal eine Waschmaschine hatten, kam mich schon hart an.
Der Koran - ich liebte ihn einfach. Er war so schön, so wunderbar schön. Es gab keinen Zweifel, daß er absolut unverändert war, so wie er offenbart war. Der Koran ist Gottes Wort. Mit den Hadithen, den Aussprüchen des Propheten, tat ich mich da schwerer. Ohne sie ging es nicht, das war klar. Der liebe Gott hatte den Koran ja nicht einfach vom Himmel fallen lassen, sondern den Propheten gesandt, um ihn Stück für Stück zu verkünden. Da stand im Koran, daß wir das Gebet verrichten sollten, aber wie das nun aussehen sollte, hatte der Prophet den Menschen, die damals direkt von ihm lernen durften, vorgemacht.
Die Hadithe nun schienen mir ein weites, unübersehbares Feld. Auch waren sie sprachlich viel schwieriger als der Koran, das war Menschenwort - das Wort eines Menschen aus einem anderen Volk zu einer anderen Zeit. Und ehrlich gesagt - ich war voll Mißtrauen: Wie weit konnte man sich darauf verlassen, daß das alles korrekt überliefert war? Hier fehlte das sprachliche Wunder, das beim Koran einfach ein klarer Beweis war, da konnte ich auf mein Gefühl für Sprache und Worte vertrauen. Und doch, manchmal staunte ich, wie schön auch die Sprache des Propheten war, knapp und bedeutungsvoll. Beruhigend war, als ich einigermaßen kapierte, wie sorgfältig und wirklich wissenschaftlich die Muslime bei der Überlieferung der Hadithe vorgegangen waren, doch, das war beeindruckend.
Nun also diese kleine Hadithsammlung auf meinem Schreibtisch. Schon ein paar mal hatte man mir leise zu raten versucht, mich doch nicht so einseitig auf den Koran zu beschränken, aber mit einer gewissen Dickköpfigkeit und einem unverbesserlichen Perfektionsdrang hatte ich solche Ratschläge einfach außer Acht gelassen und mich weiter an meinen Koran gehalten. Also gut, aber, ich schlug das kleine Büchlein auf. Der erste Hadith war mir wohlbekannt, er behandelte die Geschichte der ersten Offenbarung. Ach, das kannte ich doch schon. Warum hatten sie ausgerechnet diesen Hadith an den Anfang gestellt? In der Küche wartete Arbeit... ich schlug das Büchlein wieder zu.
Und doch - es ging mir nicht aus dem Kopf. Die Geschichte der ersten Offenbarung... natürlich, hier lag irgendwie der Kern unseres Glaubens, daß das wirklich passiert ist, daß Gott sich einem Menschen offenbart, ihm Sein Wort eingegeben hat. Glaubte ich das wirklich? Aber ja, mit Sicherheit, der Koran lag doch in unseren Händen, und so was gab es nicht nochmal, das war absolut einmalig. Zwar gab es zur Zeit des Propheten wohl einige andere Araber, die auf die Idee kamen, es ihm einfach nachzumachen, behaupteten, auch sie seien zu Propheten berufen, dachten wohl, das sei eine schlaue Masche. Was sie sprachlich als Offenbarung verkaufen wollten, war schlicht und einfach lächerlich. Nie hat es jemand geschafft, auch nur eine einzige Sure zu produzieren, die dem Koran gleichkäme, obwohl die kürzeste Sure nicht einmal drei Zeilen lang ist. Wie blödsinnig das Argument, nein, die Behauptung, es sei halt einfach verboten gewesen, den Koran nachzumachen, wie ich es einmal irgendwo gelesen hatte. Als wenn sich so etwas hätte verbieten lassen!
Ich versuchte, mir das wirklich vorzustellen mit der ersten Offenbarung, wie war das für den Propheten gewesen? Die Art der Araber, etwas zu berichten, unterscheidet sich sehr von der unseren, das war mir im Laufe meiner Ehe aufgegangen. Ich hatte oft das Gefühl, daß die Hälfte fehlte, wenn mir mein Mann etwas erzählte, während er fand, das sei doch ganz klar, das ergäbe sich doch aus dem Zusammenhang. Um mir wirklich vorstellen zu können, wie der Prophet die erste Offenbarung erlebt hatte, mußte ich das schon auf Deutsch tun, aber ich mußte vorsichtig sein. Ich durfte die fehlende Hälfte nicht einfach erfinden. Gott sei dank gab es mehrere Hadithe darüber, die einander ergänzten. Die studierte ich nun sorgfältig, um mir nach bestem Wissen und Gewissen mein Bild, mein deutsches Bild zu machen.
...im Namen deines Herrn, Der geschaffen hat...
Der Prophet irrte durch die unwirtlichen, kargen Felsberge Mekkas. Es waren nicht Zweifel über das, was er erlebt hatte, die ihn quälten. Klar und unauslöschlich waren jene Worte in sein Herz geschrieben, die anders waren als alles, was er je zuvor gehört oder gesagt hatte:
Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen hat,
den Menschen erschaffen hat aus einem anhaftenden Blutgebilde.
Lies! Und dein Herr ist der höchst edelmütige,
Der gelehrt hat mit dem Stift.
den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte.
...diese Worte, die kein Menschenwort waren... Wie hatte er sich gewehrt, sie anzunehmen! Der Engel hatte ihm befohlen: „Lies!“, er hatte sich widersetzt: „Ich kann nicht lesen.“ Darauf hatte der Engel ihn so gepresst, daß er gedacht hatte, sein Ende sei gekommen. Ein zweites Mal der Befehl: „Lies!“ und sein Widerstand: „Ich kann nicht lesen.“ Wieder preßte ihn der Engel in aller Heftigkeit. Und ein drittes Mal der Befehl: „Lies!“ Da hatte er den Widerstand aufgegeben, sich ergeben und gefragt: „Was soll ich lesen?“
Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen hat,
den Menschen erschaffen hat aus einem anhaftenden Blutgebilde.
Lies! Und dein Herr ist der höchst edelmütige,
Der gelehrt hat mit dem Stift.
den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte.
Als der Engel ihn verlassen hatte, klopfte sein Herz so stark, daß es ihm die Brust zu zersprengen drohte. Das unerwartete Erlebnis hatte ihn mit Furcht erfüllt. Erst allmählich war die Furcht gewichen, trat an ihre Stelle nun Sehnsucht, ein Verlangen nach einem neuen Zeichen von seinem Herrn, Dem Edelsten, Der geschaffen hatte..., gelehrt hatte...Doch die Tage vergingen, und es geschah nichts.
Der Prophet irrte durch die kargen, unwirtlichen Berge Mekkas. Er suchte die Einsamkeit in der Hoffnung auf eine neue Offenbarung... Hatte sein Herr ihn verlassen? Die Sonne glühte über den harten Steinen der Felsenlandschaft – nichts. Tage vergingen. Die Stille, die Leere waren nicht mehr zu ertragen...
Da hörte er eine Stimme vom Himmel und hob den Blick. Am Horizont saß der Engel, der ihm in der Höhle Hira erschienen war, auf einem Thron: „Wahrlich, du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gabriel.“ Der Prophet stand wie angewurzelt. Wohin er auch schaute, sah er den Engel vor sich. Es war ein gewaltiger Anblick. „Wahrlich, du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gabriel.“ Als der Engel verschwunden war, stand der Prophet unverändert an derselben Stelle. Die Worte des Engels waren keine neue Offenbarung von Koran. Sie bestätigten dem Propheten, was er bereits sicher wußte, ohne jeden Zweifel. Und sie halfen ihm, auszuharren, durchzuhalten...
Die zweite Offenbarung empfing der Prophet nicht in der Einsamkeit der Felsenberge Mekkas. Ausgestreckt auf seiner Schlafstätte, zugedeckt mit einer Decke nahm er diesmal bereitwillig die Worte auf, die ihm der Engel Gabriel überbrachte:
Du, der du dich zugedeckt hast,
Stehe auf und warne!
Verherrliche Deinen Herrn,
Reinige deine Gewänder,
Halte dich fern von allem Unreinen,
erwarte keine Gegenleistung,
Und um Deines Herrn willen harre geduldig aus.
Von sieben Kindern, innerem Reichtum und... Glück (Teil 1)
Regine Borrmann
Allein unter freiem Himmel
Ich hatte es nicht immer so schön wie an dem Tag, an dem ich begann, dieses Buch zu schreiben. Vor allem: Ich war einmal allein gewesen, ganz allein. Damals hatte ich noch nicht einmal gewußt, daß es Gott gibt.
Da lief ich mit Rucksack in Schleswig-Holstein an der Ostsee entlang nach Norden. Meine Semesterferien lagen früh im Jahr, es war Ende Februar oder Anfang März, eine denkbar ungeeignete Jahreszeit, um in Deutschland Wanderfreuden zu genießen. Ich wollte ja eigentlich auch etwas ganz anderes. Doch daß die freie Natur so ungemütlich und abweisend sein würde, hatte ich nicht erwartet.
Außer mir war niemand zu fuß unterwegs. Man konnte sich nirgends hinsetzen, weil es zu kalt war. So aß ich meine Vesperbrote im Stehen. Die Ostsee war mit Eisschollen bedeckt. Daß ich somit etwas besonderes erlebt hatte, etwas was man später würde erzählen können, interessierte mich zu dieser Zeit schon nicht mehr. Ich hüpfte von einer Eisscholle zur nächsten, ein paar Meter weit. In einem Wanderführer hatte ich mir eine Route ausgesucht, die ich laufen würde. Die Jugendherbergen, in denen ich übernachtete, waren fast leer.
Einmal verspätete ich mich abends, es wurde dunkel. Ich lief durch einen kahlen Wald, der so ganz anders war als unser Kiefernwald im Süden. Ein Glück – Glück? – daß der Mond schien. Ich hatte keine Angst. Als ich in der Herberge ankam – fast hatte ich mich in dem Wald verirrt –, war diese geschlossen. Es war außerhalb der Saison. Die Herbergseltern waren gut zu mir. Jedenfalls zogen sie einen Leinenschlafsack aus dem Schrank, schlossen einen der Schlafsäle auf und brachten mich unter. Am Morgen bekam ich auch ein Frühstück.
Oder im Sommer vor meinem einsamen Wandern im Norden. Ich hatte mir Fernandos Fahrrad ausgeliehen und treppelte über die spanische Hochebene. Kam mir ganz toll vor, als ich meinen Schlafsack einfach in einem Stoppelfeld ausrollte und allein unter freiem Himmel übernachtete. Das südliche Sternenbild, zirpende Grillen, Weite, Freiheit...
Die Nacht darauf verbrachte ich in der kleinen Fonda der Eltern von Carmens Freundin. Der historische Ort lag sehr malerisch und ganz typisch spanisch auf einem Felsen, der aus der Ebene ragte, und hatte etwas von einer Festung. Hohe Mauern, grauer Stein. Auch die Menschen wirkten auf mich eher abweisend.
Carmens Freundin nahm mich mit zu einem Bekannten in das Innere eines alten, fürstlichen Gebäudes. Der junge Mann selbst machte den Eindruck eines verkommenen Sohnes reicher Eltern. Später saßen wir am Rande des Ortes und hatten den Blick weit über die Ebene. Carmens Freundin unterhielt sich mit dem jungen Mann, vielleicht rauchten beide oder zumindest er Haschisch. Ich blieb aus ihrem Gespräch ausgeschlossen. In der Ferne sah man einen breiten Rauchstreifen, der sich über die Ebene schob. Das sei ein Flächenbrand, das gäbe es öfter. Ich versuchte, trotz des Dunkel – es war längst Nacht geworden – mehr zu erkennen, blickte angestrengt in die Ferne, unter dem Rauch sah man ein Glimmen. Ganz langsam stieg Entsetzen in mir auf, Grauen, Angst, dieses große, sich über die Ebene wälzende Feuer... ich nachts im Stoppelfeld... niemand hatte gewußt, wo ich war, niemand hätte nach mir gefragt...
Ich hatte selten Zeit, solche Erinnerungen auszugraben. Der Alltag mit meinen sieben Kindern war einfach zu ausgefüllt. Doch den Tag, an dem ich begann, dieses Buch zu schreiben, hatte ich mit Rückenschmerzen im Bett verbracht. Es war ziemlich schlimm diesmal, Schmerzen eben. Bei den Waschungen zum Gebet kam ich nur mit Mühe an die Füße. Die Bewegungen des Gebets konnte ich nicht genau ausführen, beim Beugen mußte ich in die Knie gehen.
Mein Sohn Mohammed war sechseinhalb. Er saß auf der Fensterbank und war stinkesauer. Gestenreich und vehement beschwerte er sich. Wenn er so in Fahrt war, mußte man sich das Lachen verkneifen. Es sei schrecklich gemein. Und Allah sieht alles, und wir würden schon noch sehen. Und wenn Chadidscha ihm am nächsten Tag wieder keine Mango geben würde, dann würde sie was erleben. Und überhaupt, einen neuen Kuli habe er ja auch nicht gekriegt. Und Chadidscha habe ihn so gemein verprügelt, und gestern auch schon, und er würde nie mehr auf Abudi horchen und auch nicht mehr für uns die Milch bringen. Ibrahim, vier Jahre, meinte ganz unbeschwert: „Dann bring halt ich die Milch!“ Er war gerade vergnügt, plapperte vor sich hin, da war er richtig goldig. Musa war fast unbemerkt zu mir ins Bett geklettert, hatte sich mir an die Brust gelegt und war gleich eingeschlafen. Dabei hatte er noch gar keine Windeln und keinen Schlafanzug an. Das erledigten Chadidscha und Fatima nun mit vereinten Kräften, er protestierte ein bißchen, schlief dann nuckelnd gleich wieder ein.
Am Fenster eine unheimliche Stimme ...huh, huh... ich hätte gedacht, das sei Chadidscha, aber Mohammed wußte gleich Bescheid: „Das ist Abudi, der will mir bloß Angst machen!“ Einen Augenblick später war Abdullah – er war neun – mit einem Hops bei mir auf dem Bett, doch da kriegte er erst mal einen Anranzer : „Du hast ja immer noch die gleiche von Schmutz starrende Hose an! Runter von meinem Bett! Und hast du überhaupt schon gebetet?“ Safia, die brave, schlief schon. Das sollten die anderen jetzt eigentlich auch.
Buchstaben und Bonbons
Gemeinsam mit meinem vierjährigen Sohn Ibrahim lernte ich dazu. Mein Ziel war, ihn dazu zu bewegen, möglichst viel Koran zu lesen und möglichst viel „Schreiben“ zu üben – seine allerersten arabischen Buchstaben - , und dabei möglichst wenig Bonbons als Belohnung einzusetzen. Schließlich machten sie ihm nur die Zähne kaputt. Außerdem ging der Bonbonvorrat, den ich hinter meinen Kleidern ganz oben im Schrank gut verwahrt hielt, gerade bedenklich zur Neige. Sein Ziel war, ganz gleich wie, möglichst viele Bonbons zu ergattern. Einmal waren sie süß, außerdem konnte man damit vor seinen Geschwistern angeben, und schließlich bedeutete jedes Bonbon einen gewissen Sieg über Mamas Knauserigkeit.
Ibrahim hatte so schön geschrieben, da hatte er wirklich eine Belohnung verdient. Ganz begeistert von seinem Fortschritt kruschtelte ich also ein Bonbon hinter den Kleidern hervor. Da strahlte er. Wenn er lachte, schienen sich seine Mundwinkel fast mit den Ohrläppchen zu treffen. Mit dem Bonbon in der Backe sah es noch lustiger aus. Und dann wollte er gleich noch ein Bonbon haben. Daß die Mama so begeistert war von seine Buchstaben und gerade mal so gebefreudig, mußte doch ausgenutzt werden! Ich ließ mich aber nicht rumkriegen. Wenn ich es zu einer Bonbon-Inflation kommen ließ, war das Ziel verfehlt, dann spornte ein lumpiges kleines Bonbon niemanden mehr an, irgendetwas zu tun! Na ja, wenn er am nächsten Morgen schön Koran lesen würde, dann gäbe es noch ein Bonbon, versprach ich ihm schließlich. Damit gab er sich zufrieden.
Natürlich hatte er es am nächsten Morgen nicht vergessen, im Gegensatz zu mir. „Komm, Ummi, wir lesen Koran!“ „Ja, gleich,“ meinte ich erfreut ob so viel Eifers. Dann fiel es mir wieder ein: Ach so, das versprochene Bonbon... Aber nun hatte ich etwas dazugelernt. Daß er gerade so willig war, mußte doch ausgenutzt werden! „Ja, komm her, wir lesen. Und wenn ich dir dann das Bonbon gebe, schreibst du auch schön in dein Heft. Heute ist das `Ba` dran...“ Ohne lang nachzudenken, war er gleich einverstanden, las schön Koran, bekam sein Bonbon. „So, und wo ist jetzt dein Heft?“ Ich war mir nicht sicher, ob er es absichtlich „verschlampert“ hatte – das war eher einer von Abdullahs Tricks.
Nein, nein, wenn Ibrahim es verlegte, dann wohl wirklich eher aus Schusseligkeit, wir fanden das Heft auch gleich. „Also jetzt die `Ba`s, soll ich dir Pünktchen malen oder schreibst du sie ganz alleine?“ „Ganz alleine!“ Einen Augenblick später kam er mit dem Heft an. Die Linien waren noch genauso leer wie vorher. Ob er nicht vielleicht die halbe Seite auslassen könne? „Nein!“, meinte ich so entschieden, daß er nicht weiter versuchte mich umzustimmen. Ob ich ihm vielleicht doch Pünktchen malen sollte? „Ja, doch,“ fand er jetzt. Also malte ich ihm eine Reihe gepünktelter `Ba`s auf die Linie. „Schau mal, ich hab´ sie schön groß gemacht. Und wenn du sie fertig hast, lassen wir eine Linie frei und schreiben auf die nächste Linie, und dann ist die Seite ganz schnell voll, dann reicht´s!“ „Okay!“ Er zog mit Heft und Bleistift ab. Etwas später legte er beides ganz behutsam auf meinen Schreibtisch. Als er merkte, daß ich ihn gesehen hatte, meinte er: „Ach Mama, ich schreibe das später.“ „Also gut“, meinte ich. Er würde es schon noch schreiben.
Frau Brezna
Ich hatte einen neuen Menschen kennengelernt.
Wie sehr mich das aufwühlte, merkte ich an meinen Gebeten, die ich plötzlich nicht mehr ordentlich betete. Nicht daß ich die Gebetszeiten nicht korrekt eingehalten hätte, Gott bewahre. Ich hielt auch artig an den freiwilligen, zusätzlichen Gebeten fest, die ich normalerweise bete, und bemühte mich, in jedem Gebet die gewohnte Menge Koran zu rezitieren, obwohl man da durchaus die Freiheit hat, es kurz zu halten. Und ich hielt an den Bittgebeten fest, die ich mir zusammengestellt hatte, in dem Wissen, daß ich alles, um das ich da bat, dringend brauchte. Als ich mich dann im Abendgebet sogar verhedderte, einen vierten Gebetsabschnitt anhängte, wo keiner mehr hingehörte, mußte ich mir eingestehen, daß etwas nicht stimmte.
Damit daß ich mir das eingestand, platzte eine Haut, die mir zu eng geworden war. Der Islam, Muslim geworden zu sein, bedeutete nicht, daß man angekommen war, nun stehen bleiben konnte, nicht mehr wachsen, sich nicht mehr verändern mußte, im Gegenteil. Islam bedeutete, einen geraden Weg eingeschlagen zu haben und diesen nun vorwärts zu gehen, sich zu verändern, sich zu ändern zum Guten hin.
Aus der aufgeplatzten Haut quoll meine Aufgewühltheit hervor, und ich versuchte nicht länger, es vor Allah zu verbergen, welch unsinniger Versuch. O Allah, das alles kommt von Dir, es ist von Dir bestimmt. Du kennst meine Liebe zum Schreiben, die ich jahrelang voll Mißtrauen gegen mich selbst und vielleicht aus Mangel an Vertrauen in Dich in schwere Eisenketten gelegt hatte, aus denen sie sich aber ganz leise und sanft Stück für Stück herausgezogen hat und so in Briefe und einige Gedichte schlüpfen konnte. O Allah, Du kennst meine Liebe zum Schreiben nicht nur, Du hast sie gemacht. Bitte, laß mich etwas schreiben, das Deine Anerkennung findet und worauf Dein Segen liegt.
Allah ist noch so viel größer.
Der Mensch, den ich kennengelernt hatte, war eine Frau, die schrieb. Sie hieß Irena Brezna. Ich hatte ihr Buch gelesen, eine Freundin hatte es mir aus Deutschland geschickt. Wie lange hatte ich kein deutsches Buch mehr gelesen!
Frau Brezna stammte aus der Slowakei, aber sie schrieb auf Deutsch. Sie schrieb gut. Sie hatte etwas außergewöhnliches getan. Als es zur sowjetischen Invasion in Tschetschenien kam, das russische Heer über kaukasische Dörfer herfiel und wieder einmal ein friedliches muslimisches Volk Opfer von Gewalt und Grausamkeit wurde, flog sie hin. Sie hatte einen Ausweis als Sonderkorrespondentin, aber den schob sie in die Strumpfhose, band sich ein Kopftuch um, weinte an den Kontrollposten, damit ihr akzentbehaftetes Russisch nicht bemerkt würde, und ging mit tschetschenischen Frauen in ein Dorf, das gerade einen Überfall russischer Soldaten erlebt hatte.
Sie lieferte nicht einen Bericht wie andere Journalistinnen, die zwar im allgemeinen Zeiten mädchenhafter Anmut hinter sich haben, aber mit offenen Haaren und sich unter Pullovern abzeichnenden Brüsten Berichte abliefern, die genausogut Männer hätten produzieren können.
Frau Brezna schrieb ein sehr persönliches Buch, das Buch einer Frau. Es war zu einem guten Teil ein Buch über sie selbst. Da beschrieb sie zunächst in einer Fabel voller Bilder, Zwischentönen, wie sie selbst als junges Mädchen von ihrer fliehenden Mutter in die Schweiz gebracht wurde... Russische Panzer hatten die Tschechoslowakei überrollt. Ihr Flug nach Tschetschenien war ihr ein inneres Muß, keine Berufsausübung.
Ihre Begegnung mit den Tschetscheninnen war von Respekt gezeichnet, ja von Liebe. Da war die Bereitschaft, wirklich wahrzunehmen, statt vorgefaßte Bilder wiederzuerkennen. Umarmt hätte ich sie am liebsten für ihre beißende, gekonnte Satire vom TV-Filmer „auf der Jagd nach der Einheitsträne“, der das Leid des tschetschenischen Volkes routinemäßig, gefühl- und taktlos zu einem mitleidheischenden Null-Acht-Fünfzehn-Bericht über Unglück und Armut verarbeitet hatte.
Manchmal war ich erstaunt, erschrak fast ein bißchen, wie bedeutungsvoll für mich war, was mein Mann mir zu geben hatte. In einer kurzen Sure im Koran steht ein Satz, den man so übersetzen kann:
„Wahrlich der Mensch ist verloren außer denen, die den Glauben angenommen haben, richtig handeln, einander ans Herz legen, sich an die Wahrheit zu halten, und einander anhalten, standhaft auszuharren.“
Die richtigen Worte im richtigen Moment aus dem Munde eines anderen Menschen zu hören, erinnert zu werden an das, von dem man weiß, daß es wahr ist, das man nur im Augenblick aus den Augen verloren hatte... Wenn wieder scharfe Konturen bekam, was zu verschwimmen drohte...
Nein, nicht erschrecken über die eigene Bedürftigkeit. Wie sehr man sich doch selbst etwas vormacht, wenn man sie nicht sehen will.
Wie weit bin ich innerlich abhängig von meinem Mann? fragte ich mich. Wir waren über fünfzehn Jahre verheiratet. Abhängig sein – das heißt: in der Luft hängen ohne. Angst davor, nur noch ein halber Mensch zu sein, wenn er nicht mehr da wäre.
Von Allah bin ich abhängig. Davon, daß Er mir im richtigen Moment das richtige zukommen läßt. Sei es durch meinen Mann, sei es anders. Allah stirbt nicht.
Frau Brezna hatte mich sehr beeindruckt. Sie war eine mutige, starke Frau. Und dabei dachte sie über sich selbst nach, sie beobachtete gut und war empfindsam. Sie schrieb so gut. Wie bekam man einen Ausweis als Sonderkorrespondentin? Sie hatte veröffentlicht...
Man darf sich nicht zu sehr beeindrucken lassen. Von nichts und niemandem. Sonst blendet es einen, dann kann man nicht mehr klar sehen.
Ich schaute mir Frau Breznas Fotos an. Dreimal war sie abgebildet, auf den vielen Schwarzweißfotos des Taschenbuches. Jedesmal sah sie wieder ganz anders aus. Sympathisch. Auf dem Buchdeckel stand, daß sie mit ihren zwei Söhnen in Basel lebte. (Wo war der Vater ihrer Jungs?)
Wer Frau Brezna wirklich war, wußte ich nicht. Auch ihr Buch war ja nur ein Bild von ihr. Seit sie es geschrieben hatte, waren fünf oder sechs Jahre vergangen. Ich wollte Frau Brezna gerne kennenlernen. Ich beschloß, ihr einen Brief zu schreiben.
Als ich den Brief dann auch wirklich schrieb, kam ich allerdings schnell ins Stocken. Was konnte ich Frau Brezna über mich selbst schreiben, über den langen, eigentlich recht abenteuerlichen Weg, den mich mein inneres Muß geführt hatte? Und was konnte ich ihr schreiben von meinem doch recht zurückgezogenen Leben als "Nur-" Haus - und Ehefrau sowie Mutter? Ich mußte ihr etwas schreiben über mich selbst, das war klar, aber eigentlich ging es mir um etwas ganz anderes.
Frau Brezna hatte in ihrem Buch von der Reihe der Toten gesprochen, die im Paradies weilen durften. Hatte sie das einfach nur so hingeschrieben, wie sie es von den Tschetscheninnen gehört hatte, dann nicht weiter darüber nachgedacht? Sie hatte geschrieben, daß sie sicher etwas Absurdes gedacht hätte, wäre sie in Tschetschenien auf eine Mine getreten. Gott sei Dank, sie war heil zurückgekommen und hatte so ihr ausgezeichnetes Buch schreiben können, aber fragte sie sich denn nicht, was sie wohl denken würde, wenn ihr Leben sein Ende erreichen würde, vielleicht ganz unspektakulär, aber doch plötzlich?
Gott kam in ihrem Buch nicht vor, und mir ging es vor allem und letztendlich um Ihn. Doch wie konnte ich Frau Brezna das verständlich machen?
Mein Brief fiel ungelenk und holprig aus, ich war gar nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Trotzdem schickte ich ihn ab, war dann aber weder überrascht noch enttäuscht, daß ich nie eine Antwort erhielt. Vielleicht war ja auch mein Brief oder ihr Antwortbrief auf dem langen Postweg zwischen dem Sudan und Basel verloren gegangen.
Ungewöhnlich
Wir waren zu Gast bei einer befreundeten Familie, etwa zehn Frauen saßen in einer Runde, außerdem einige ältere Mädchen und viele Kleinkinder. Ich bemühte mich, dem schnellen, lebhaften Gespräch auf Arabisch zu folgen, was mir wegen des irakischen Dialektes nicht ganz leicht fiel.
Fatima setzte sich neben mich und flüsterte mir ins Ohr. „Mama, mir ist was passiert. Als wir im Schwimmbassin geplanscht haben, ist mir ein Spielzeug ins Ohr geraten. Jetzt höre ich auf dem Ohr nichts mehr, und es tut mir weh.“ „Wie kann denn so was passieren, welches Spielzeug denn?“, war meine erste Reaktion. Ich schaute auf die Uhr und überlegte. Ein Arztbesuch würde Nerven kosten und aller Erfahrung nach unbefriedigend verlaufen. In der Regel wirkte die Diagnose wenig überzeugend, und man bekam routinemäßig eine Flasche Antibiotikum und ein Schmerzmittel verschrieben. Und es war sowieso schon zu spät abends, um überhaupt noch einen Arzt anzutreffen.
Sollte das Trommelfell verletzt sein? Eine schlimme Vorstellung, wenn meine Tochter von nun an nur noch auf einem Ohr hören würde...Keine Macht noch Kraft außer bei Allah. Schlimmen Vorstellungen galt es die Lehren unseres Propheten und die Geschichten aus dem Leben der Menschen, die damals direkt von ihm lernen durften, entgegenzusetzen. Da war die Geschichte von Erwa bin Zubair, einem großen Gelehrten, dem das Bein amputiert werden mußte. Nach der Amputation lobte er Allah und dankte Ihm dafür, daß er ja noch drei gesunde Gliedmaßen übrig hatte...
„Gott sei Dank, du hast ja noch das andere Ohr. Und überleg mal, es gibt Menschen, die ganz taub sind, manche sogar von Geburt an. Wenn man sich das vorstellt! In scha Allah, so Gott will, gehen wir morgen zum Arzt.“
Wieder zuhause saß ich bis spät in die Nacht und schrieb. Als ich schließlich zu Bett gehen wollte, hatte Musa, der dort schon lange friedlich schlummerte, seine Hand an sein Ohr gelegt, ungewöhnlich. So schlief er sonst nie. Mir fiel Fatimas Ohr wieder ein. Ich bat Allah, Er möge es einfach wieder gut werden lassen.
Es begann nach Staub zu riechen. Wir bekamen Staub, so wie man in Deutschland Regen bekommt. Einen Sturm brauchte es dazu gar nicht.
Das war im letzten Drittel der Nacht, als es schon auf den Anbruch der Morgendämmerung zuging. Zu dieser Zeit ist Allah Seiner Schöpfung besonders nahe, wenn man das so ausdrücken kann. Um diese Zeit nimmt Er Bitten bevorzugt an, sozusagen. Diese Dinge sind schwer zu übersetzen – sie stimmen so, wie der Prophet sie auf Arabisch gesagt hat, aber wir können sie nur begrenzt verstehen und nur übersetzen, was wir verstanden haben.
Als wir zum Morgengebet aufstanden, kam Fatima zu mir und meinte glücklich: „Ich kann wieder ganz normal hören, es ist vorbei.“ Wundergeschichten? Alles hat seine Gründe und Zusammenhänge, und wir kennen sie nur zum Teil. Vielleicht war etwas im Ohr angeschwollen gewesen oder leicht entzündet und hatte sich über Nacht erholen können. Das Wunder lag darin, daß ich Gott gebeten hatte, die Bitte sich erfüllt hatte und daß ich wußte, daß das von Gott so bestimmt war.
Beginn der Regenzeit
Es war ganz früh am Morgen, gerade erst war es hell geworden. An den Schatten sah ich, daß die Sonne wohl gerade aufgegangen sein mußte. Ich saß auf einem der blauen Stühle, die meinem Rücken so wohl taten, im Hof vor der Küche, den wir den Frauenhof nannten.
Über mir strömte das Wasser rauschend in die Wassertonnen, die auf dem Dach installiert waren und uns als Wassertanks dienten. Es klang hohl, was bedeutete, daß sie noch fast leer waren. Gott sei Dank hatte ich daran gedacht, die Wasserpumpe gleich einzuschalten. Der Motor lief ruhig und gleichmäßig.
In scha Allah, so Gott wollte, würden wir heute endlich Wäsche waschen können. Normalerweise wuschen wir dreimal die Woche: samstags, montags und mittwochs. Wegen der Stromausfälle hatten wir nun schon seit Mittwoch nicht gewaschen, es war Montag. Der große Wäschekorb war gestopft voll mit schmutziger Wäsche. Die Haushaltshilfe hatte versprochen, pünktlich zu kommen. Ich stülpte den Schlauch über den Wasserhahn am Waschstein und steckte ihn in die Waschmaschine. In der Küche stand der Topf mit der Seifenlauge schon auf dem Feuer.
Alle schliefen noch, erschöpft von der Hitze der vergangenen Tage. Ich würde mich dann um die Mittagszeit hinlegen. „Der Segen liegt für jene, die mir nachfolgen, in den Morgenstunden.“ hatte der Prophet gesagt. Daß Morgenstund Gold im Mund hat, weiß man in Deutschland ja auch.
In der Nacht hatte es geregnet, die jüngeren Kinder hatten da schon geschlafen. Abudi hatte an die Tür des großen Raumes geklopft, den wir „das Büro“ nannten. Gleich ließen wir die Fernsehdiskussion stehen, über die wir uns sowieso nur geärgert hatten, und gingen ins Freie. Mein Mann, die drei großen Kinder und ich begannen Allah zu bitten. Wenn Regen fällt, ist das ein besonders passender Moment dafür. Wie schade, daß die Menschen in Deutschland das nicht wußten, wie viel Gutes entging ihnen da!
Gott bitten - das war, was neu gewesen war, nachdem ich zum Glauben gefunden hatte, daß es Gott überhaupt gibt. Das war nun sechzehn Jahre her. Im Islam dann, etwas später, lernte ich, daß es der Kern, auf Arabisch das Hirn, des Dienstes an Gottes ist, Ihn zu bitten. Gott weiß, was wir uns wünschen, Er weiß, was wir brauchen, doch Er will von uns, daß wir uns bittend an Ihn wenden, an Ihn, Der Seine Gaben so reichlich, großzügig und weise austeilt. Und wenn wir Gott bitten, sollen wir ganz davon überzeugt sein, daß Er unsere Bitten annimmt und erhört. "Wenn meine Diener dich nach Mir fragen, so bin Ich nahe. Ich erhöre die Bitte des Betenden, wenn er Mich bittet. So sollen sie denn auf Mich hören und an Mich glauben, dann werden sie mit Sicherheit rechtgeleitet sein." steht im Koran.
Der Regen war sanft und schön. Ich genoß das Geräusch der Tropfen auf dem Sonnensegel zwischen Eßdiele und Küche. Fatima kam – unpassenderweise – mit Vaters Papierkorb an, um ihn in der Küche vor dem Regen in Sicherheit zu bringen. Er hatte zum Ausleeren draußen gestanden. Ihr Gesicht sah glücklich aus. Sie sagte: „Chadidscha hat mir gesagt, ich soll mich drauf einstellen, daß gleich wieder der Strom weg ist.“ Es gab noch ein paar Kerzen auf dem Küchenfenster, wir legten sie auf den Kühlschrank, um sie gleich bei der Hand zu haben. Leider hatten die Kinder die aufladbaren Lampen kaputtgemacht.
Dann war ich wieder allein, unter dem Sonnensegel. Der Regen und der Wind zausten unseren kleinen Baum, dessen Krone aus dem Männerhof über die Mauer ragte. Die Krone des Baumes sah nun wuschelig aus, weich, ganz anders. – Der Strom fiel nicht aus, es regnete auch nirgends ins Haus hinein. So sanft und freundlich, wie der Regen gekommen war, hatte er auch wieder aufgehört.
- - Ein Blick in meine halbautomatische Waschmaschine: Das Wasser war braun, fast dunkelbraun! Durfte das wahr sein? Keine Macht noch Kraft außer von Allah. Ich bog das Abflußrohr in das Becken des Waschsteins und ließ das Wasser wieder ablaufen. Bismillah, im Namen Allahs, es sollte doch für Ihn sein, sind wir doch nur auf der Welt, um Ihm zu dienen. Er hat das so gemacht, daß Wäsche dreckig wird und man sie dann waschen muß. Ich drehte den Wasserhahn nochmal auf, um die Maschine gleich wieder vollaufen zu lassen. Möglicherweise kam das Wasser inzwischen sauber.
Plötzlich verstummte das gleichmäßige Geräusch der Wasserpumpe und das Rauschen über mir. Was? Ich blickte auf die Uhr in der Küche – sieben Uhr! An beiden vorangegangenen Tagen war der Strom um acht Uhr weggewesen und erst nachmittags um fünf wiedergekommen. Ich hatte fest damit gerechnet, daß wir an diesem Tag Strom haben würden. Oft wechselten sich Tage mit Stromausfall und solche mit Strom miteinander ab. Aber so war das halt im Sudan: Man konnte sich auf nichts verlassen. Man wußte nie im Voraus, wann es Strom geben würde und wann nicht, und das machte die Stromknappheit noch viel anstrengender. Es gab zwar gewisse erfahrungsmäßige Wahrscheinlichkeiten, aber mehr nicht.
Mir schwante Fürchterliches. Im Jahr zuvor um diesselbe Jahreszeit war der Strom so knapp gewesen, wie ich es in den mehreren Jahren, die ich jetzt immerhin Sudanerfahrung hatte, sozusagen, noch nie erlebt hatte. Manchmal hatten wir von 24 Stunden nur drei Stunden Strom gehabt. Abgesehen von Schweiß, Hitze und allgemeiner Klebrigkeit bedeutete es, daß ich Tiefkühltruhe und Kühlschrank nicht wie gewohnt benutzen konnte. So mußte man sehr viel mehr Aufwand treiben mit Einkaufen und Kochen. Wenn das wieder so schlimm werden sollte, konnte ich mir auf jeden Fall das Schreiben gleich abschminken.
Keine Kraft noch Macht außer bei Allah. Für einen Augenblick war ich in Versuchung aufzugeben. Halt noch ein Tag ohne frischgewaschene Wäsche, jeder würde wohl schon irgendetwas finden, das er anziehen könnte, und zur Not konnte man ja auch in schmutzigen Kleidern rumlaufen. Es machte aber einen Unterschied, nein, es war nicht egal. Es wird einen Tag geben, an dem es ganz und gar nicht egal sein wird. „ Und wer auch nur ein Staubkörnchen Gutes getan hat, wird das (am Tag des Jüngsten Gerichtes) sehen, und wer auch nur ein Staubkörnchen Schlechtes getan hat, wird das sehen.“ , steht im Koran.
Die Waschmaschine war zum zweiten Mal vollgelaufen. Das Wasser war nun lediglich gelblich, das ging schon. Ich schloß die Wasserhähne der Wassertonnen auf dem Dach, von denen aus das Wasser in die Leitungen des Hauses floß. Es konnte leicht passieren, daß eines der Kinder das Wasser im Klo nicht wieder zudrehte und dann im Handumdrehen das gespeicherte Wasser alle war. Dann öffnete ich den Wasserhahn am Waschstein, um den Wasserdruck in der öffentlichen Wasserleitung zu prüfen. Gott sei Dank, es kam noch Wasser, wenn auch nicht sehr stark. Vermutlich würde später kein Wasser mehr von außen kommen, dann würde ich das Wasser aus den Tonnen auf dem Dach benutzen müssen. Ich entschloß mich, Sadek zu wecken.
Er hatte wenige Tage zuvor eine kleine Strommaschine gekauft. Ich mußte dringend lernen, mit ihr umzugehen. Gut, daß ich am Tag zuvor schon erwähnt hatte, wie dringend wir waschen mußten. Er stand sofort auf, warf das Strommaschinchen an und schloß die Waschmaschine daran an. Wir würden noch mehr Benzin benötigen, um alles zu waschen, aber die Waschmaschine drehte sich schon mal mit dem kleinen Rest an Benzin, der noch da war. Es galt keine Zeit zu verlieren, um das Wasser von außen zu nutzen und den jetzt bereitgestellten Strom. Das Strommaschinchen lief. Schnell sortierte ich die Wäsche im Wäschekorb aus, um nur das Wichtigste zu waschen. „Die beste aller Angelegenheiten ist die, die in der Mitte liegt“, hat der Prophet gesagt. Auf Deutsch ist das der goldene Mittelweg. Alles waschen zu wollen, wäre übertrieben gewesen.
Das Schöne bei einer halbautomatischen Waschmaschine ist, daß man direkt in den Waschvorgang eingreifen kann. Sie ist von oben offen, die Wäsche dreht sich einmal rechts herum und einmal links herum. Ich stellte mich neben die Waschmaschine. War das vernünftig? Womöglich würden meine Rückenschmerzen wieder schlimm werden und ich würde bereuen, daß ich mich nicht entschließen konnte, Chadidscha zu wecken und um Hilfe zu bitten.
Jedesmal wenn die Waschmaschine ihre Drehrichtung änderte, gab es eine kurze Pause. Die nutzte ich, um die Kleidungsstücke je nach Verschmutzungsgrad – zuerst die weniger verschmutzten – herauszuziehen. Ich schaute sie mir an. Was mir sauber erschien, wrang ich aus, das sollte die Haushaltshilfe dann von Hand ausspülen.
Die Haushaltshilfe kam nicht pünktlich, sondern um neun. Ich sagte nichts, sie hatte einen weiten Weg, und die öffentlichen Verkehrsmittel waren nicht zuverlässig und anstrengend. Auch krempelte sie sofort die Ärmel hoch und nahm mir aus der Hand, was noch von der Wäsche übrig geblieben war. Es war nicht mehr viel, und wir konnten mit dem restlichen Benzin tatsächlich noch die Wassertonnen auf dem Dach vollpumpen, nachdem die Waschmaschine nicht mehr gebraucht wurde.
Beim Frühstück hielt ich meinen Kindern eine Ansprache. „Hört mal, jetzt fängt die Regenzeit an.“ „Toll!“, meinte Ibrahim mit seinem goldigen Stimmchen. „Regnet es jetzt gleich?“ „Allahu aalem, das weiß Allah am besten. Ich glaube nicht, daß es jetzt gleich regnet, aber möglich ist es natürlich. Jedenfalls, Kinder, wir müssen jetzt besonders gut Ordnung halten. Ihr wißt ja, wie das ist: Oft kommt zuerst ein Staubsturm und dann der Regen, und alles, was rumliegt auf dem Boden, ist dann ganz schnell voll Matsch und dreckig. Und dann gibt es vielleicht keinen Strom oder kein Wasser, und wir sitzen im Dunkeln im Dreck und können wenig machen, und alles ist eklig. Also, ihr dürft keine Kleider rumliegen lassen, und auch die Schuhe kommen am besten immer in den Schrank.“ Ich sah ihnen an, wie sie gute Vorsätze faßten. Natürlich würden sie sie sofort wieder vergessen, und ich würde sie ständig daran erinnern müssen. Das nahm ich mir nun meinerseits vor. Eigentlich war die Regenzeit vielleicht ein ganz gutes Training, mehr Ordnung zu halten.
Um ein Uhr war plötzlich der Strom wieder da. „Allahu akbar!“, riefen die Kinder, das machte ihnen Spaß. Und der Tag war nicht ganz so heiß wie die Tage zuvor. Die restliche Wäsche im Wäschekorb konnten wir dann auch gleich wegwaschen.
Es folgten mehrere Tage ohne Stromausfall, ohne Staub und ohne Regen.
Blick in den Himmel über meinem Hof
Der Himmel über meinem Hof war mit wunderschönen Wölkchen geschmückt. Er war hellblau und sehr hoch. Diese Weite. Der Himmel war so groß. Wie klein waren da all meine kleinen Weisheiten, mein bißchen Wissen, das ich so dringend brauchte, um mein kleines Leben auf die Reihe zu kriegen.
Was war über den Wolken, hinter dem Himmel, wie weit war das Weltall, wo war es zu Ende? Andere Sonnensysteme, schwarze Löcher, alles strebt auseinander und wird irgendwann wieder in sich zusammenfallen. Sagt die Wissenschaft. „Und den Himmel haben Wir gebaut durch Kraft, und wahrlich, Wir dehnen aus.“ steht im Koran. Und: „Alles vergeht außer Seinem Antlitz. Sein ist das Urteil, und zu Ihm werdet ihr einst zurückgebracht.“
Einmal wird das alles hinter uns liegen, und es wird uns vorkommen, als hätten wir nur einen Tag verweilt, oder sogar nur den Bruchteil eines Tages. Ob ich dann wirklich zu denen gehören würde, die das Paradies betreten dürfen, die es verdient haben? Womit denn? Da sind meine Gebete, die ich bete, so gut ich kann. Wieviel sie wohl wert sind bei Allah? Das Gebet ist das erste, wonach wir gefragt werden am Tag des Gerichts. Sind sie in Ordnung, dann wird alles gut.
Da ist mein Bemühen um den Koran. Je mehr ich auswendiggelernt habe, je öfter ich ihn gelesen habe, je mehr ich mich mit Erklärungen befaßt habe, desto mehr erkenne ich, wie gewaltig er ist, und daß ich ihn niemals werde erfassen können. Und da waren noch andere Offenbarungsschriften – der Psalter, den David erhalten hat, Moses´ Thora, Jesus´ Evangel. Andere Sprachen, was alles mochte in ihnen geschrieben stehen... „Sag: Wenn das Meer Tinte wäre für die Worte meines Herrn, bestimmt würde das Meer erschöpft sein, bevor die Worte meines Herrn erschöpft wären...“
Dieses riesige Weltall, das aber doch endlich ist und einst ein Ende nehmen wird... Zu meiner Überraschung fanden wir es in Chadidschas Was-ist-was-Sachbuch „Die Zeit“:
„Die Zeit ...hat wahrscheinlich Anfang und Ende. Sie kam mit dem Weltall und wird mit diesem wieder verschwingen.“
Allah hat es angekündigt: „Wir werden ihnen unsere Zeichen zeigen an den Horizonten und in ihnen selbst, bis ihnen klar wird, daß es die Wahrheit ist.“ Das wußten sie jetzt also schon.
Mein Blick glitt ab in unseren Hof. So schön war er gar nicht, mehr praktisch. Da standen meine Waschmaschine und die Wassertonne, hingen die Sonnensegel, ein bißchen schief. „Ich liebe ihn aber, meinen Hof," dachte ich, "das heißt, ich liebe es, hier zu sitzen.“ Das diesseitige Leben hatte mich wieder. „Es ist nichts als eine Gabe von Gott, die genutzt sein will“, dachte ich noch. Es galt diese Zeit zu nutzen, die uns gegeben war und die ihr Ende nehmen würde...
Im Abendgebet kamen mir die Tränen. Ich spürte die Weite, die der Blick in den Himmel in meiner Brust hinterlassen hatte. Diese Tränen waren keine Rührseligkeit. Männer, die die halbe Welt erobert, dann weise regiert haben, haben sie vor mir geweint. Sie kämpften am Tage, zu Pferde, mit dem Säbel in der Hand, und verbrachten die Nächte im Gebet stehend, als wären sie Mönche... und weinten, bis ihre Bärte naß waren von den Tränen. Diese Tränen sind Wissen um Allah im Herzen. Da schmilzt etwas, Härte, die all jene Sünden hinterlassen haben , die bei Allah festgeschrieben sind und die wir vergessen haben...
Blick ins Internet
Ein kurzer Blick ins Internet – endlich wollte ich die neue Möglichkeit nutzen und ein wenig in deutschen Zeitungen blättern.
Eine Welle von Feindseligkeit schlug mir entgegen. Stimmungsmache gegen solche, die es gewagt hatten, an Israel Kritik zu üben, Stimmungsmache gegen Palästina und die Palästinenser, gegen die „Moslems“. Wir befanden uns im Krieg. „Wer sich nicht auf unsere Seite stellt, ist unser Feind!“ hatte es aus Amerika getönt. Stimmungsmache an sich schien mir gar nicht so verabscheuungswürdig. Sie war eine Waffe der Kriegsführung. Im arabischen Fernsehen wurde sie auch nach Kräften betrieben, natürlich, bloß andersrum.
Eselmist
Die Straße vor unserem Haus war ungeteert und bestand aus Sand. Jeden Morgen brachte uns der Milchmann per Eselkarren frische Milch ins Haus. Chadidscha holte das Geld aus dem Büro, Abudi die Blechkanne aus der Küche.
Ich hatte ihnen mehrmals gesagt, daß sie an diesem Tag die doppelte Menge kaufen sollten. „Habt ihr drangedacht?“ „Schon,“ meinte Abudi, unterdrückte ein Grinsen, es zuckte um seine Mundwinkel und um die Augen. „Was ist los?“ „Mama, der Esel steht doch vor unserem Hoftor, wenn wir die Milch kaufen... und manchmal muß er doch Kackerchen machen, oder? Also, er hat genau vor unserer Tür ein Riesenkackerchen gemacht... es ist ziemlich flüssig...“ Die jüngeren Kinder, die ihn umrahmten, kicherten. Abudi konnte sich auch nicht mehr halten und mußte lachen. „Na ja...“ Ich mußte auch lachen.
„Das heißt, wenn jetzt jemand zu uns kommt, tritt er rein, macht sich die Schuhe schmutzig und uns den ganzen Boden.- Also, flüssig ist es? Dann kann man es wohl schlecht wegmachen... ach, weißt du, kipp einfach einen Eimer Sand drüber!“
Machte er dann auch. Er hätte den Eselmist auch einfach auf sich beruhen und liegen lassen können...
„Besitz und Kinder verschönern das diesseitige Leben...“ heißt es im Koran. Und geht weiter: „... Aber bleiben wird rechtschaffenes Handeln. Es wird von deinem Herrn hoch belohnt und läßt Gutes erhoffen."
Wenn ihnen ein Unglück zustößt
„Und sicher werden wir euch Prüfungen aussetzen mit etwas Furcht und Hunger und mit Verlust an Besitz sowie Rückgang der Bevölkerung und der Ernten. Doch künde den geduldig Ausharrenden Gutes an, die wenn ihnen ein Unglück zustößt, sagen: 'Wahrlich, wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück.' Auf diesen liegen Segnungen von ihrem Herrn und Barmherzigkeit, und sie sind die Rechtgeleiteten.“ So steht es in zwei Versen im Koran.
Der Koran besteht aus insgesamt 6236 Versen, und, wie soll ich sagen, ist ungeheuer dicht, unglaublich dicht, da ist kein Wort zu viel, Gott bewahre, natürlich nicht, und jeder Vers, jedes Wort, jeder Buchstabe hat eine Tiefe, die mindestens so unergründlich ist wie der Ozean. "Und sie begreifen von Seinem Wissen nur so viel, wie Er will," steht an einer Stelle. Auch wenn wir den Koran mit gläubigem Herzen lesen, bereit, anzunehmen was da steht, nicht mit den Abers hinter dem Rücken, sogar wenn wir ihn ganz auswendiglernen, Buchstaben für Buchstaben - wir werden ihn nie erfassen können. Und dann gilt es noch, das was wir begriffen, verstanden haben, präsent zu halten, daran zu denken, denn wir wollen es doch in unserem Leben umsetzen.
Die Natur des Menschen ist es, zu vergessen. Deshalb muß er immer wieder erinnert werden - daran, wo er herkommt, wer er eigentlich ist, und daran, was Gott von ihm will und was Er ihm versprochen hat. Diese Erinnerung ist uns der Koran. Deshalb haben wir ihn nie ausgelesen und lesen ihn immer wieder und wieder und lesen ihn immer noch. -
Noch eine knappe Stunde bis zum Mittagsgebet, höchste Zeit, mich ein wenig hinzulegen. Auch spürte ich die Müdigkeit. Kaum hatte ich mich ausgestreckt: „Rumms!“ knallte eine Tür am anderen Ende des Hauses. Und gleich nochmal: „Rumms!“ Unsere Türen waren aus Eisen und Glas, wohl weil sich Holz bei der Hitze schnell verzogen hätte. Das bedeutete, sie machten ordentlich Krach, und außerdem konnten die Glasscheiben zerbrechen... Und schon wieder: „Rumms! Rumms! “ – „Kinder!“, ließ ich einen Schreier los. Ich wollte schlafen.
Nur noch eine Dreiviertelstunde zum Gebet – und ich brauchte meinen Schlaf doch auch!
Nach einer kurzen Ruhepause ging es wieder los. „Rumms!“ Und ein ganz besonders lauter Knaller : „Rummms!“ Es half nichts. Ich stand auf und ging in Richtung Büro. Kein Kind weit und breit. Ich hatte keine Lust, sie erst zu suchen, und klemmte einen Plastikbaustein zwischen Tür und Türrahmen von Abudis Zimmertür. Hamudi tauchte auf. Vermutlich hatten ihn die Großen geschickt, um mal zu schauen, ob die Mama noch um die Wege war, oder ob man weiterspielen konnte. Ich schärfte ihm ein: „Keiner nimmt den Plastikstein weg! Keiner schmeißt mehr mit den Türen!!“ Dann ging ich zurück in mein Zimmer, streckte meine Knochen aus, ah, welche Wohltat, die feste Matratze unter meinem Rücken zu spüren.
Ich schlief schon halb, da machte es wieder: „Rumms!“ Danach klangen die begleitenden Geräusche , die Stimmen der Kinder, irgendwie verändert. „Mama!“ „Aha!“, dachte ich. Und: „Hoffentlich hat sich niemand mit einer Glasscheibe verletzt.“
Abudi kauerte in der Diele vor seinem Zimmer wie ein Frosch auf dem Boden und hielt sich den Kopf. Neben ihm, auf dem Boden, zahlreiche dicke Tropfen frischen Blutes... Zuerst dachte ich: „Vielleicht hat er bloß Nasenbluten.“
Als Chadidscha noch klein war, sich ihren Finger in der Waschmaschinentür eingeklemmt hatte und ich sie zum ersten Mal bluten sah, wäre ich fast umgekippt. Inzwischen war ich einigermaßen abgehärtet.
Unsere Kinder waren immer voller Schrammen, Verbandszeug und Wundsalbe lagen bereit. Wir desinfizierten eifrig, bei dem Klima konnte sich eine Wunde leicht entzünden.
„Was ist denn los?“ fragte ich und begann zu schimpfen, was mir aber im gleichen Augenblick auch schon leid tat. Was hatten sie denn auch so wild gespielt. Der Plastikbaustein klemmte übrigens noch, es war die gegenüberliegende Tür gewesen, durch die sie mit Vollgas durchbretterten. Weil Abudi der flüchtende Bösewicht war und Fatima ihn als Polizist verfolgte...
Abudi hatte eine Platzwunde über dem Ohr, nicht schlecht, Herr Specht, zwei bis drei Zentimeter lang. In Deutschland würde man das bestimmt nähen.
Hier würden sie einen im Krankenhaus möglicherweise auslachen und wieder nach Hause schicken. „Chadidscha, Watte!“ Ich beschloß, lieber meinen Mann anzurufen. Sein Geschäft war ganz in der Nähe. Er kam sofort und versorgte die Wunde. Er konnte so was gut.
Außer der Platzwunde hatte Abudi noch eine dicke Beule über dem anderen Ohr, und das Schienbein hatte er sich auch angeschlagen. Weh tat das schon. Sein Gesicht sah verändert aus, magerer, schmaler, ein bißchen spitz. Er jammerte überhaupt nicht, von Anfang an war er einfach still gewesen.
Ich faßte ihn an den Schultern, da war Gott sei Dank noch alles ganz, drückte ihn kurz ein bißchen.
Nun, der imposante Kopfverband, den ihm Vater verpaßt hatte, war nicht schlecht. Außerdem in Vaters Büro ausruhen zu dürfen, das Essen speziell für sich auf einem Tablett serviert zu bekommen... Abends brachte ihm mein Mann sogar teure Fruchtsäfte mit. Sollte er ruhig ein bißchen Aufmerksamkeit extra kriegen, das tat ihm vielleicht mal ganz gut. Großzügig gab er Hamudi von seinen Fruchtsäften ab.
Ob es wohl eine große Narbe geben würde? Das wäre nicht so schlimm gewesen, an der Stelle waren ja Haare drüber. Schade, nur. Ich hatte nicht gesagt: „Wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück.“ Wenn es auch kein großes Unglück war, das uns da zugestoßen war. Es wäre eine Gelegenheit gewesen. Für mich. Mir Segnungen von meinem Herrn und Barmherzigkeit zu verdienen, zu den Rechtgeleiteten zu gehören. Hätte ich gerne gehabt. Schade. Vielleicht nächstes Mal? Falls es ein nächstes Mal geben würde. Man wußte ja nicht, wie lange man noch leben würde.
„Wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück.“
Eine Frau ist eine Frau.
Eine Frau ist eine Frau. Hosen, kurze Haare und Karriere ändern das auch nicht. Wollen wir einmal beiseite lassen, daß es einer Frau passieren könnte, vergewaltigt zu werden und sie das auch immer weiß: Selbst wenn sie auf Kinderkriegen, Stillen, Muttersein verzichtet, in Berufsleben und Öffentlichkeit ihren Mann steht – was sie gut kann, in einer Welt, in der körperliche Kraft keine Rolle mehr spielt, es normal ist, beruflichen Erfolg über die Familie zu stellen, Empfängnisverhütung zum guten Ton gehört - , kreisen doch in ihrem Körper die Hormone, die sie, manipuliert durch die Pille oder nicht, dreißig Jahre ihres Lebens lang, oder länger, allmonatlich ihre Regel bekommen lassen, und steht in der DNS jeder einzelnen Zelle ihres Körpers geschrieben: weiblich.
„Und das Männliche ist nicht wie das Weibliche“, steht im Koran. Und: „...Mann oder Frau, die einen von euch sind doch von den anderen...“
Ich war überrascht und erschrocken. Tränen waren mir in die Augen getreten, ein Schluchzer hatte sich meiner Brust entrungen. Also doch wieder: Ich konnte nicht mehr. Ich hatte gedacht, das läge hinter mir.
Mein Versuch, aus Gebet und Koran Kraft zu schöpfen, war fehlgeschlagen, irgendwie ging es nicht mehr weiter, meine Bemühung war krampfhaft geworden. Der ganze Schwung war weg. Ich mußte es mir eingestehen. Im Grunde hatte ich mich ja selber gequält, wie ich in den letzten Tagen immer nörgeliger und liebloser mit den Kindern umgegangen war. Sogar mit Chadidscha war ich aneinandergeraten. Groll gegen meinen Mann stieg in mir auf. Warum vernachlässigte er uns so?! Kein anerkennendes Wort, er hatte mich nicht einmal angeschaut, als ich ihm und seinem Gast am Mittag... Stop.
Ich war seit nunmehr fünfzehn Jahren verheiratet. Daß ich aufpassen mußte, wenn das so losging, hatte ich irgendwann begriffen.
Da war das Wort des Propheten, daß die Mehrheit der Bewohner der Hölle Frauen sind. O wie ungern hörte ich das, vorbelastet mit der tiefsitzenden Angst der modernen Frau, mein Frausein könnte bedeuten, daß ich ein Mensch zweiter Klasse sei. Daß Kleriker einst diskutierten, ob die Frau überhaupt eine Seele habe, hat tiefe Spuren hinterlassen... Und so war ich lange nicht aufnahmefähig für die Fortsetzung des Wortes des Propheten. Er wurde nämlich gefragt, wieso das denn so sei. Und antwortete: „Sie sind undankbar gegen den, der sie ernährt. Da bist du die ganze Zeit gut zu einer von ihnen, und wenn sie dann einmal etwas an dir auszusetzen findet, sagt sie: Du warst noch nie gut zu mir.“
Mein Mann hatte seit Beginn unserer Ehe viel Geduld mit mir. Er war liebenswert zu mir und behandelte mich voll Respekt und Achtung. Nie wäre er auf die Idee gekommen, mir vorzuhalten, daß er mich ja ernährte. Daß es das Recht der Frau ist, ernährt zu werden, steht im Islam fest, wie feststeht, daß der Mann die Verantwortung und die Führung hat.
Mein Mann ernährte mittlererweile neun Personen. Er war selbständig. Je nach der Lage im Geschäft hatte er manchmal schon seinen Stress. Meine Rolle war dann, trotz seiner Hektik möglichst Ruhe zu bewahren, zu beweisen, daß es doch noch ein frischgewaschenes Unterhemd gab, wenn es auch in die hinterste Ecke des Kleiderschrankes gerutscht war, aus der ich es ihm herausfischte, und wenig später lächelnd schnell zur Seite zu springen, wenn er im Volldampf durch die Tür sprintete, fragte „Brauchst du etwas?“ und auch schon im Auto saß, bevor mir eine Antwort über die Lippen gekommen wäre.
Nun war es abends. Mein Mann stand in der Tür meines Zimmers, er mußte nochmal weg. „Brauchst du was?“ Er erschrak, als er mein Gesicht sah, die Tränen. „Wann bringst du mich endlich zu Um Mustafa, das ist doch im Auto ein Katzensprung.“ „Bitte, ich muß jetzt weg. Hab´ bloß noch heute Geduld, ja?“
Als er zurückkam, brachte er eine Schachtel teuren Gebäcks mit. Die stellte ich den Kindern hin, rührte selbst nichts an und ging mein Nachtgebet beten. So einfach ließ ich mich nicht abspeisen. Nach dem Gebet beschloß ich, einen Großangriff zu starten. Da fühlte ich mich gleich viel besser.
Ich ging ins Büro und machte ein böses Gesicht. Mein Mann hatte schon auf mich gewartet. Und auf das, was nun kommen würde... „Also, was gibt´s?“, fragte er. Dabei wußte er es wohl. Auch er war seit fünfzehn Jahren verheiratet. „Der beste von euch ist der, der am besten ist zu seiner Familie.“, hat der Prophet gesagt. Ich brauchte meinem Mann nicht vorzuhalten, daß er die Nähnadeln, deren Bedarf ich am Vortag zwischen Tür und Angel noch anzumelden geschafft hatte, vergessen hatte, und daß...
Als wir jungverheiratet waren, war er fassungslos vor dergleichen Vorhaltungen gestanden – wie konnte so etwas der Grund sein, daß man in Tränen ausbrach? Irgendwann hatte er dann begriffen, daß eine Frau Aufmerksamkeit und Zuwendung von ihrem Mann braucht, und konnte im Nachhinein schon erkennen, wenn es daran gefehlt hatte. Der Prophet hatte den Männern die Frauen ans Herz gelegt und dabei gesagt: "Die Frau ist aus einer Rippe geschaffen, und du kannst sie unmöglich geradebiegen. Du kannst nur dann Nutzen von ihr haben, wenn du sie gebogen läßt." Das hatte ich, Gott sei Dank, von Anfang an nicht als Abwertung empfunden. Eine Rippe ist schließlich etwas sehr Wichtiges und Wertvolles: Sie bewahrt und beschützt das Herz! Und war dieses Wort des Propheten denn etwas anderes als eine Botschaft an die Männer: Laßt den Frauen ihre Weiblichkeit, nehmt sie so, wie sie sind! Denn wenn ihr von den Frauen männliche Rationalität verlangt, geht etwas sehr Kostbares verloren.
„Also, was gibt´s?“, hatte mein Mann gefragt. Ich antwortete: „Du hast uns seit ungefähr vier Monaten versprochen, daß wir an den Nil fahren.“ „Och!“, stöhnte er, „da ist es doch heiß! Du weißt ja gar nicht, wie heiß es da ist!“ Ich meinte treffsicher: „Wenn wir gleich nach dem Morgengebet losfahren, ist es noch schön frisch.“ „Hm.“, meinte er. Er wußte, daß ein Opfer fällig war. Tatsächlich, er war bereit, auf sein freitagvormittägliches Ausschlafen zu verzichten und mit uns frühmorgens zum Nil zu fahren!
Es paßte gut, alle Kinder waren früh eingeschlafen. „Da brauchen wir noch Proviant. Und Benzin.“ Daran hatte ich vor Freude gar nicht so schnell gedacht. Er griff nach dem Autoschlüssel. Nur in der Tür kam er noch kurz ins Schwanken... „So früh morgens gibt es wahrscheinlich kein Benzin... oder vielleicht doch?“ (...und wenn man es drauf ankommen ließe und es dann keines gäbe, wäre das ein guter Grund, doch zu hause zu bleiben, sich wieder ins Bett zu legen und doch noch auszuschlafen...) „Komm bloß nicht ohne Benzin nach hause!“, meinte ich schnell und tat ganz grimmig. Dann brachte er reichlich leckere Sachen mit, von Würstchen über Saft bis hin zu süßen Teilchen, und sagte: „Mach, daß du ins Bett kommst, daß du auch genug Schlaf kriegst!“
Es wurde ein herrlicher Ausflug, der allen gut tat. Meinem Mann auch.
Durststrecke
oder: Stumpf wie ein Kartoffelsack
Durststrecke. Ich las Koran, aber ich empfand nichts dabei. Das ist schlimm, wenn man Koran liest und dabei nichts empfindet. Das ist doch Gottes Wort, Seine letzte Offenbarung an die Menschheit, alles was hier steht, ist wahr. Und man muß sich fürchten, wenn von der Strafe Allahs die Rede ist, die ewig sein wird und unabwendlich, und freudig hoffen, wenn das Paradies genannt wird, das so unvorstellbar schön ist, daß es sich bei allem, wie Gott es uns beschreibt, kein Mensch jemals vorstellen kann. Aber mein Herz war so stumpf wie ein Kartoffelsack.
Daß Gott nahe ist, weiß ich und bin mir da ganz sicher. Es steht ja im Koran. Aber ich – ich war irgendwie weit weg, hatte mich entfernt. Da hatte sich etwas zwischen mich geschoben und Allah, Sünden, die ich längst vergessen, vielleicht kaum wahrgenommen hatte, doch bei Gott waren sie aufgeschrieben. Ich habe doch eigentlich nichts Böses gemacht, dachte ich. Der Mensch ist ziemlich gut im Verdrängen, vor allem der eigenen Fehler.
Ich sehnte mich nach dem Koran, danach, ihn mit dem Herzen hören zu dürfen. Es blieb mir verwehrt. Allah verteilt in Seiner Weisheit. Mühsam schlug ich mich durch die Sure „Hud“, die ich anderthalb Jahre zuvor auswendiggelernt hatte, wiederholte jeden Tag eine Seite, manchmal zwei. Doch, etwas von der Schönheit der Worte durfte ich doch fühlen, ein bißchen gewannen die Propheten, von denen berichtet wird, an Gestalt. Aber war sie nicht bedrückend, die sich wiederholende Geschichte der Glaubensverweigerung?
Da hatte Gott in einem Volk nach dem anderen einen der ihren zum Propheten berufen. Er rief die Menschen auf, sich niemandem anderen als Gott zu unterwerfen, allen Irrglauben aufzugeben, kein Unrecht zu tun und darauf zu vertrauen, daß Gott sie versorgen würde. Der Prophet wollte für sein Volk nur Gutes und erwartete sich von ihnen keine Gegenleistung für seine Bemühungen. Doch die meisten Menschen wollten von dieser Botschaft nichts wissen sondern lieber an dem festhalten, was ihnen vertraut war, egal, ob es falsch war. Sie erklärten den Propheten zum Spinner und Lügner und wurden agressiv gegen ihn und die wenigen, die sich ihm anschlossen. Wenn auch jedes Volk seine eigene Geschichte hatte, im Prinzip war es immer das gleiche.
Mir wurde bewußt – selbst wenn es mir gelingen sollte, In Gottes Sinne von Seinem letzten Propheten zu berichten, der an die gesamte Menschheit gesandt war in einer Zeit, in der die Botschaft die ganze Welt erreichen konnte - selbst wenn es mir gelingen sollte, die Menschen meiner Sprache zum Glauben an Ihn und zum Dienst an Ihm aufzurufen, mit dem was ich schrieb: Ich würde ausgelacht werden, sie würden sich über mich lustig machen, meine Worte ins Lächerliche ziehen und mich für verrückt erklären.
Ich mußte aufhören, mir selbst etwas vorzumachen. Ich schaute genau hin und wurde mir bewußt: Beim Lesen im Koran – nicht beim Wiederholen des Auswendiggelernten – war ich noch fast an der gleichen Stelle wie vor mehr als einer Woche! Gut, ich hatte mich vor mir selbst entschuldigt und gesagt: Diese letzten Wochen der Schulferien will ich nützen, um die Kinder Koran zu unterrichten, da stelle ich sogar mein eigenes Lesen zurück. Natürlich, die Zeit war immer knapp. Aber ich hatte die Haushaltshilfe, die großen Mädchen halfen mit – warum konnte ich nicht jeden Tag einen der dreißig Koranabschnitte lesen wir früher? Und wenn ich mir das Koranlernen mit den Kindern ehrlich betrachtete: Es war zu einer lustlosen Pflichtübung geworden. O Gott! Was wir in den Händen halten, ist doch Dein Wort! Ich erschrak vor mir selbst.
Mehr als zehn Jahre zuvor hatte ich in einer Schule für afghanische Waisenmädchen in Nordpakistan erlebt, wie dort Koran unterrichtet wurde und war entsetzt. Wer es nicht konnte, bekam Tatzen. „Darf man den Koran denn mit Schlagen unterrichten?“, empörte ich mich. Ich liebte die afghanischen Mädchen so sehr, wie sie in der Frauenmoschee saßen, nach dem Gebet, in kleinen Grüppchen oder zu zweit, sich gegenseitig Koran abhörten. Sie liebten mich auch, sehr, obwohl ich ihnen nicht viel genutzt habe. Ich fungierte als Arabischlehrerin für die Erstklässler, sollte ihnen die arabische Schrift beibringen. Bloß, sie lernten nichts bei mir, weil ich keine Tatzen verteilte. Oder nur so sanfte, daß sie heimlich über mich lachten, wie ich dann später begriff. Doch sie liebten mich, und ich liebte sie. Und sie liebten die anderen Lehrerinnen, die die Tatzen austeilten, die richtigen Tatzen, nicht die sanften, auch sehr.
Wirklich wahr?
Wie wahr ist unsere Wahrheit?
Als kleines Mädchen war für mich unumstößlich wahr, was mein Vater sagte. Mein Vertrauen auf ihn war endlos. Einmal waren wir nachts unterwegs auf einsamer Strecke und hatten eine Autopanne. Ich spürte, daß meine Mutter Angst hatte und sagte zu ihr: „Hab keine Angst, Mama, der Papa ist doch da.“
Bei uns zu hause gab es Nikolaus und Christkindle, und es wurde ganz stilvoll gefeiert. Aber keiner erwartete, daß wir, mein jüngerer Bruder und ich, das wirklich glauben sollten. Es war einfach nur schön, Familientradition. Was mir mein Vater erklärte, und er erklärte mir seine Ansichten gern, und ich hörte gern zu, war vielmehr: Den lieben Gott, den gibt´s gar nicht, das haben die sich bloß ausgedacht, damit die Leute Angst haben und schön brav sind.
Als ich dreizehn Jahre alt war, starb mein Mutter ganz plötzlich einen tragischen Tod. Sie hatte Selbstmord begangen. Alle waren geschockt. Ich stellte fest, daß die Erwachsenen sehr wenig wußten. Keiner wußte etwas Gescheites zu sagen. Das beste war noch das Wort des Pfarrers bei der Beerdigung, daß wir aus Erde geschaffen sind und wieder zu Erde werden. Das stimmte wenigstens.
Später erlebte ich, daß manchmal Sachen wahr waren, es aber unmöglich war, sie anderen glaubhaft mitzuteilen.
Auf meinem Schreibtisch lag ein kleines Buch mit Hadithen, Aussprüchen des Propheten. Mein Mann hatte es mir mitgebracht und so im Vorbeigehen auf den Tisch gelegt, wie das seine Art war. Und ich hatte es lange einfach liegen lassen, wie das so meine Art war, war ich doch hochbeschäftigt mit Kindern, Küche und meinem Koranprogramm.
Ich liebte den Koran, da fühlte ich mich sicher. Daß da jeder Buchstabe an seinem Platz war, hatte ich begriffen, als ich den Koran auf Arabisch zu entziffern begann. Buchstabe um Buchstabe entzifferte ich ihn, las Vers um Vers erst auf Arabisch, dann in deutscher Übersetzung, damals in Granada, als wir frischverheiratet waren. Mein Mann hielt sich zurück, sagte nichts, wenn ich vergessen hatte, seine Kleider zu waschen, und ließ mich einfach machen. Er hatte sich eine Frau gewünscht, die dazulernen wollte, und als er mich nach der Eheschließung in seine Wohnung führte, die nun unsere sein würde und die er liebevoll hergerichtet hatte, stand da auch ein große Tafel, Kreide lag bereit. Aber als ich ihn mit komplizierten Fragen nach Grammatik und Phonetik löcherte und eine wissenschaftliche Antwort erwartete, begriff er, daß ich ihm keine gelehrige Schülerin sein würde und akzeptierte das einfach. Er tat so, als beachte er nicht groß, daß ich die kürzeren Suren auf Din-A-4-Blättern in die Küche hängte, um sie auswendig zu lernen, aber als ich einmal etwas falsch abgeschrieben hatte, machte er mich so ganz nebenbei darauf aufmerksam.
Etwas erstaunt sah er zu, wenn ich frühmorgens nach dem Gebet mein Päckchen Karteikarten mit arabischen Vokabeln zückte. Später dann dekorierte ich unser Schlafzimmer mit riesigen Plakaten, auf denen ich das beieindruckend systematisch funktonierende arabische Verbensystem aufgeschrieben hatte. Auch davon ließ er sich nicht beeinträchtigen. Er hatte mir eine Kassettensammlung geschenkt, in der jeder Koranvers erst auf Arabisch rezitiert, dann in englischer Übersetzung gesprochen wurde. Die hörte ich mir beim Tellerwaschen an.
Die Beschäftigung mit dem Koran war es, die mich damals durchhalten ließ. Mein Mann und ich waren uns schrecklich fremd, hatten einfach einen zu unterschiedlichen Hintergrund. Daß wir uns auf Spanisch und Englisch verständigen mußten, was weder seine noch meine Muttersprache war, machte es auch nicht leichter. Unter den muslimischen Frauen in Granada, zum größeren Teil junge spanische Frauen, die konvertiert waren, und einige junge Marokkanerinnen, fühlte ich mich fremd. So sehr ich mich nach einem einfachen Leben gesehnt hatte - daß wir am Anfang nicht mal eine Waschmaschine hatten, kam mich schon hart an.
Der Koran - ich liebte ihn einfach. Er war so schön, so wunderbar schön. Es gab keinen Zweifel, daß er absolut unverändert war, so wie er offenbart war. Der Koran ist Gottes Wort. Mit den Hadithen, den Aussprüchen des Propheten, tat ich mich da schwerer. Ohne sie ging es nicht, das war klar. Der liebe Gott hatte den Koran ja nicht einfach vom Himmel fallen lassen, sondern den Propheten gesandt, um ihn Stück für Stück zu verkünden. Da stand im Koran, daß wir das Gebet verrichten sollten, aber wie das nun aussehen sollte, hatte der Prophet den Menschen, die damals direkt von ihm lernen durften, vorgemacht.
Die Hadithe nun schienen mir ein weites, unübersehbares Feld. Auch waren sie sprachlich viel schwieriger als der Koran, das war Menschenwort - das Wort eines Menschen aus einem anderen Volk zu einer anderen Zeit. Und ehrlich gesagt - ich war voll Mißtrauen: Wie weit konnte man sich darauf verlassen, daß das alles korrekt überliefert war? Hier fehlte das sprachliche Wunder, das beim Koran einfach ein klarer Beweis war, da konnte ich auf mein Gefühl für Sprache und Worte vertrauen. Und doch, manchmal staunte ich, wie schön auch die Sprache des Propheten war, knapp und bedeutungsvoll. Beruhigend war, als ich einigermaßen kapierte, wie sorgfältig und wirklich wissenschaftlich die Muslime bei der Überlieferung der Hadithe vorgegangen waren, doch, das war beeindruckend.
Nun also diese kleine Hadithsammlung auf meinem Schreibtisch. Schon ein paar mal hatte man mir leise zu raten versucht, mich doch nicht so einseitig auf den Koran zu beschränken, aber mit einer gewissen Dickköpfigkeit und einem unverbesserlichen Perfektionsdrang hatte ich solche Ratschläge einfach außer Acht gelassen und mich weiter an meinen Koran gehalten. Also gut, aber, ich schlug das kleine Büchlein auf. Der erste Hadith war mir wohlbekannt, er behandelte die Geschichte der ersten Offenbarung. Ach, das kannte ich doch schon. Warum hatten sie ausgerechnet diesen Hadith an den Anfang gestellt? In der Küche wartete Arbeit... ich schlug das Büchlein wieder zu.
Und doch - es ging mir nicht aus dem Kopf. Die Geschichte der ersten Offenbarung... natürlich, hier lag irgendwie der Kern unseres Glaubens, daß das wirklich passiert ist, daß Gott sich einem Menschen offenbart, ihm Sein Wort eingegeben hat. Glaubte ich das wirklich? Aber ja, mit Sicherheit, der Koran lag doch in unseren Händen, und so was gab es nicht nochmal, das war absolut einmalig. Zwar gab es zur Zeit des Propheten wohl einige andere Araber, die auf die Idee kamen, es ihm einfach nachzumachen, behaupteten, auch sie seien zu Propheten berufen, dachten wohl, das sei eine schlaue Masche. Was sie sprachlich als Offenbarung verkaufen wollten, war schlicht und einfach lächerlich. Nie hat es jemand geschafft, auch nur eine einzige Sure zu produzieren, die dem Koran gleichkäme, obwohl die kürzeste Sure nicht einmal drei Zeilen lang ist. Wie blödsinnig das Argument, nein, die Behauptung, es sei halt einfach verboten gewesen, den Koran nachzumachen, wie ich es einmal irgendwo gelesen hatte. Als wenn sich so etwas hätte verbieten lassen!
Ich versuchte, mir das wirklich vorzustellen mit der ersten Offenbarung, wie war das für den Propheten gewesen? Die Art der Araber, etwas zu berichten, unterscheidet sich sehr von der unseren, das war mir im Laufe meiner Ehe aufgegangen. Ich hatte oft das Gefühl, daß die Hälfte fehlte, wenn mir mein Mann etwas erzählte, während er fand, das sei doch ganz klar, das ergäbe sich doch aus dem Zusammenhang. Um mir wirklich vorstellen zu können, wie der Prophet die erste Offenbarung erlebt hatte, mußte ich das schon auf Deutsch tun, aber ich mußte vorsichtig sein. Ich durfte die fehlende Hälfte nicht einfach erfinden. Gott sei dank gab es mehrere Hadithe darüber, die einander ergänzten. Die studierte ich nun sorgfältig, um mir nach bestem Wissen und Gewissen mein Bild, mein deutsches Bild zu machen.
...im Namen deines Herrn, Der geschaffen hat...
Der Prophet irrte durch die unwirtlichen, kargen Felsberge Mekkas. Es waren nicht Zweifel über das, was er erlebt hatte, die ihn quälten. Klar und unauslöschlich waren jene Worte in sein Herz geschrieben, die anders waren als alles, was er je zuvor gehört oder gesagt hatte:
Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen hat,
den Menschen erschaffen hat aus einem anhaftenden Blutgebilde.
Lies! Und dein Herr ist der höchst edelmütige,
Der gelehrt hat mit dem Stift.
den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte.
...diese Worte, die kein Menschenwort waren... Wie hatte er sich gewehrt, sie anzunehmen! Der Engel hatte ihm befohlen: „Lies!“, er hatte sich widersetzt: „Ich kann nicht lesen.“ Darauf hatte der Engel ihn so gepresst, daß er gedacht hatte, sein Ende sei gekommen. Ein zweites Mal der Befehl: „Lies!“ und sein Widerstand: „Ich kann nicht lesen.“ Wieder preßte ihn der Engel in aller Heftigkeit. Und ein drittes Mal der Befehl: „Lies!“ Da hatte er den Widerstand aufgegeben, sich ergeben und gefragt: „Was soll ich lesen?“
Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen hat,
den Menschen erschaffen hat aus einem anhaftenden Blutgebilde.
Lies! Und dein Herr ist der höchst edelmütige,
Der gelehrt hat mit dem Stift.
den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte.
Als der Engel ihn verlassen hatte, klopfte sein Herz so stark, daß es ihm die Brust zu zersprengen drohte. Das unerwartete Erlebnis hatte ihn mit Furcht erfüllt. Erst allmählich war die Furcht gewichen, trat an ihre Stelle nun Sehnsucht, ein Verlangen nach einem neuen Zeichen von seinem Herrn, Dem Edelsten, Der geschaffen hatte..., gelehrt hatte...Doch die Tage vergingen, und es geschah nichts.
Der Prophet irrte durch die kargen, unwirtlichen Berge Mekkas. Er suchte die Einsamkeit in der Hoffnung auf eine neue Offenbarung... Hatte sein Herr ihn verlassen? Die Sonne glühte über den harten Steinen der Felsenlandschaft – nichts. Tage vergingen. Die Stille, die Leere waren nicht mehr zu ertragen...
Da hörte er eine Stimme vom Himmel und hob den Blick. Am Horizont saß der Engel, der ihm in der Höhle Hira erschienen war, auf einem Thron: „Wahrlich, du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gabriel.“ Der Prophet stand wie angewurzelt. Wohin er auch schaute, sah er den Engel vor sich. Es war ein gewaltiger Anblick. „Wahrlich, du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gabriel.“ Als der Engel verschwunden war, stand der Prophet unverändert an derselben Stelle. Die Worte des Engels waren keine neue Offenbarung von Koran. Sie bestätigten dem Propheten, was er bereits sicher wußte, ohne jeden Zweifel. Und sie halfen ihm, auszuharren, durchzuhalten...
Die zweite Offenbarung empfing der Prophet nicht in der Einsamkeit der Felsenberge Mekkas. Ausgestreckt auf seiner Schlafstätte, zugedeckt mit einer Decke nahm er diesmal bereitwillig die Worte auf, die ihm der Engel Gabriel überbrachte:
Du, der du dich zugedeckt hast,
Stehe auf und warne!
Verherrliche Deinen Herrn,
Reinige deine Gewänder,
Halte dich fern von allem Unreinen,
erwarte keine Gegenleistung,
Und um Deines Herrn willen harre geduldig aus.